Der grüne Strahl
Augenblicke entbehrte die Sache für sie alles Interesses. Sie richtete den Blick nicht einmal auf die Ruinen von Cardroß, wo Robert Bruce starb. Ihre Augen suchten, freilich vergeblich, einen Meereshorizont; einen solchen konnte sie aber nicht eher wahrnehmen, als bis die »Columbia« diese Kette von Ufern, Vorgebirgen und Hügeln hinter sich hatte, welche den Golf des Clyde umgrenzen. Uebrigens glitt der Dampfer eben bei dem Städtchen Helensburgh vorüber.
Port Glasgow, die Ueberreste des Schlosses von Newark, wie die Halbinsel Rosenheat konnte das junge Mädchen aber tagtäglich von den Fenstern ihrer Cottage aus sehen. Ja, es erschien ihr fast, als wenn der Dampfer nur den launischen Windungen eines Wasserlaufs in einem größeren Parke folge.
Und warum hätten sich ihre Gedanken weiterhin verirren sollen in die Hunderte von Fahrzeugen aller Art, die sich in den Hafenbassins von Greenock, an der Mündung des Stromes, zusammendrängen? Welche besondere Bedeutung hatte es für sie, daß der berühmte unsterbliche Watt in dieser Stadt von 40.000 Einwohnern geboren war, welche man als den industriellen und commerciellen Vorort von Glasgow zu betrachten gewohnt ist? Warum hätten ihre Blicke, drei Meilen weiter hinaus, auf dem Dorfe Gourock am linken, oder auf dem Dorfe Dunoon am rechten Ufer haften sollen, an den tief eingeschnittenen buchtenreichen Fjords, welche die Küstenlinie der Grafschaft Argyle so vielfach durchbrechen, daß diese fast dem Scherengürtel Norwegens ähnelt?
Nein, Miß Campbell’s Blicke suchten voller Ungeduld nur den in Ruinen liegenden Thurm Leven. Erwartete sie da irgend einen Burggeist zu sehen? Nicht im mindesten; sie wollte nur die Erste sein, welche das Auftauchen des Pharus von Clock meldete, der den Ausgang des Firth of Clyde beleuchtet.
Der Leuchtthurm erschien endlich, gleich einer riesenhaften Lampe, hinter einer Krümmung der Ufer.
»Clock, Onkel Sam, rief sie, Clock, Clock!
– Ganz richtig, Clock, antwortete Bruder Sam, mit der Sicherheit und Genauigkeit eines Echos der Hochlande.
– Das Meer, Onkel Sib!
– In der That das Meer, bestätigte Onkel Sib.
– Wie herrlich das ist!« wiederholten beide Onkels.
Man hätte vermuthen können, daß sie es zum ersten Male sähen.
Hier war kein Irrthum möglich; draußen über der Oeffnung des Golfes breitete sich der Meereshorizont aus.
Inzwischen hatte die Sonne noch nicht die Hälfte ihres Tageslaufs zurückgelegt. Unter dem 57. Breitengrade mußten mindestens noch sieben Stunden vergehen, bevor sie in der Salzfluth untertauchen konnte, sieben Stunden peinigender Ungeduld für Miß Campbell! Uebrigens erstreckte sich dieser Horizont mehr nach der südwestlichen Seite des Himmels, das heißt, er bildete ein Segment, welches das Tagesgestirn nur zur Zeit des Wintersolstitiums streifen konnte. Dort also war der Eintritt der fraglichen Erscheinung bestimmt nicht zu suchen, sondern weiter im Westen, selbst etwas nach Norden, da die ersten Tage des August den Aequinoctien des Septembers noch um sechs volle Wochen vorangehen.
Doch darauf kam es unseren Reisenden weniger an, es war doch ein Meereshorizont, der sich jetzt vor dem Auge der Miß Campbell ausbreitete. Jenseits des Zwischenraumes zwischen den Inseln Cumbray, jenseits der großen Insel Bute, deren Profil durch seinen Dunst gemildert erschien, und jenseits der kleinen Kämme des Aisla-Craig und der Berge von Arran flossen der Himmel und das Wasser in einer wie mit dem Lineal gezogenen Linie zusammen.
Völlig in Gedanken versenkt und ohne ein Wort zu sprechen, gab sich Miß Campbell der Betrachtung des vor ihr liegenden Bildes hin. Auf der Commandobrücke unbeweglich stehend, warf die Sonne nur einen kurzen Schatten zu ihren Füßen. Sie schien die Länge des Bogens zu messen, welcher jene noch von dem Punkte trennte, wo ihre Scheibe in die Gewässer des Archipels der Hebriden untertauchen mußte… vorausgesetzt, daß der jetzt so reine Himmel dann nicht von dem Nebel der Dämmerung verhüllt ward.
Da weckte eine Stimme die junge Träumerin aus ihren sinnenden Gedanken.
»Es ist Zeit, sagte Bruder Sib.
– Zeit? Wozu, lieber Onkel?
– Es ist Zeit zu frühstücken, erklärte Bruder Sam.
– Nun gut, so gehen wir zum Frühstück,« erklärte Miß Campbell.
Fünftes Capitel.
Von einem Dampfer zum anderen.
Nach der zur Hälfte warmen, zur Hälfte kalten Mahlzeit – in dem »Dining-room« der »Columbia«, war ein vortreffliches Frühstück nach englischer Sitte
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