Der Hase mit den Bernsteinaugen
Innenstadt. Ich war sehr fokussiert, ebenso wie meine Töpfereien. Und nun war ich wieder in Japan, stand in einem chaotischen Atelier neben einem Mann, der über Baseball schwatzte, und fertigte einen Porzellankrug mit leicht nach innen gedrückten, gestischen Seiten. Es gefiel mir; die Sache lief gut.
Zwei Nachmittage pro Woche verbrachte ich im Archiv des Nihon Mingeikan, des Japanischen Volkskunstmuseums, und arbeitete an einem Buch über Leach. Das Museum ist in einem umgestalteten Bauernhaus in einem Vorort untergebracht und enthält die Sammlungen japanischer und koreanischer Volkskunst von Yanagi Soetsu. Yanagi, Philosoph, Kunsthistoriker und Dichter, entwickelte eine Theorie, warum manche Objekte - Töpfe, Körbe, Textilien - unbekannter Handwerker so schön seien. Seiner Ansicht nach verkörperten sie deshalb unbewusste Schönheit, weil man sie in so großer Anzahl hergestellt hatte, dass der Handwerker sich von seinem Ego gelöst hatte. Er und Leach waren als junge Männer Anfang des 20. Jahrhunderts in Tokio unzertrennliche Freunde gewesen und hatten einander anregende Briefe über ihre hingebungsvolle Lektüre der Werke Blakes, Whitmans und Ruskins geschrieben. Sie hatten sogar in einem Weiler unweit von Tokio eine Künstlerkolonie begründet, wo Leach mit einheimischen Knaben als Assistenten seine Töpfe angefertigt und Yanagi vor seinen Freunden aus der Boheme über Rodin und Schönheit doziert hatte.
Hinter einer Tür wurde aus dem Steinboden Bürolinoleum; über einen Flur ging es nach hinten in Yanagis Archiv: ein kleiner Raum, dreieinhalb mal zweieinhalb Meter, Regale bis zur Decke; dort befanden sich seine Bücher und Pappschachteln mit seinen Notizbüchern und seinem Briefwechsel. Ein Schreibtisch stand da, darüber hing eine einzelne Glühbirne. Ich mag Archive. Dieses hier war sehr, sehr still und äußerst düster. Hier las ich, machte mir Notizen und plante eine Neubewertung von Leach. Es sollte eine geheime Geschichte des Japonismus werden, der Art und Weise, wie der Westen Japan mehr als hundert Jahre lang schwärmerisch und schöpferisch missverstanden hat. Ich wollte herausfinden, was an Japan in Künstlern eine solche Intensität, solche Inbrunst erweckte und die Wissenschaftler, die ein Missverständnis nach dem anderen aufdeckten, so verdross. Wenn ich ein solches Buch schrieb, so hoffte ich, würde ich vielleicht meine eigene aufgestaute Besessenheit von diesem Land loswerden.
Und einen Nachmittag pro Woche war ich bei meinem Großonkel Iggie.
Ich trat aus der U-Bahn-Station, ging vorbei an matt schimmernden Bierautomaten, vorbei am Sengaku-ji-Tempel, wo die siebenundvierzig Samurai begraben liegen, vorbei am eigenartig barocken Versammlungssaal einer Shinto-Sekte, vorbei an der Sushibar des mürrischen Mr. X, dann bei der hohen Mauer von Prinz Takamatsus Garten mit den Kiefern nach rechts. Ich stieß die Haustüre auf und nahm den Lift in den sechsten Stock. Iggie saß in einem Lehnstuhl am Fenster und las. Meistens Elmore Leonard oder John Le Carre. Oder Memoiren auf Französisch. Komisch, sagte er, wie manche Sprachen wärmer wirken als andere. Ich beugte mich zu ihm nieder, er gab mir einen Kuss.
Auf seinem Schreibtisch lagen ein unbenutzter Löscher, ein Blatt seines Papiers mit Briefkopf, dazu Federn, obwohl er nichts mehr schrieb. Aus dem Fenster hinter ihm sah man auf Kräne. Die Bucht von Tokio verschwand hinter vierzigstöckigen Wohnblocks.
Dann nahmen wir das Abendessen ein, das entweder seine Haushälterin Frau Nakamura zubereitet oder sein Freund Jiro vorbeigebracht hatte, der in der Nachbarwohnung lebte. Ein Omelett und Salat, dazu getoastetes Brot aus einer der exzellenten französischen Bäckereien in den Kaufhäusern an der Ginza. Ein Glas kalten Weißwein, Sancerre oder Pouilly Fume. Einen Pfirsich. Etwas Käse und dann ausgezeichneten Kaffee. Schwarzen Kaffee.
Iggie war vierundachtzig und leicht gebückt. Er war stets untadelig gekleidet und sah gut aus in seinen Fischgrätsakkos mit Stecktuch, pastellfarbenen Hemden und Krawatten. Er trug einen kleinen weißen Schnurrbart.
Nach dem Abendessen öffnete er die Schiebetür der langen Vitrine, die den größten Teil der Wohnzimmerwand einnahm, und nahm die Netsuke heraus, eins nach dem anderen. Den Hasen mit den Bernsteinaugen. Den Knaben mit dem Samuraischwert und Helm. Einen Tiger, ganz Schulter und Beine, der fauchend den Kopf wendet. Er gab mir eines, wir betrachteten es gemeinsam, und dann legte ich es
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