Der heilige Erwin
Erwins Schlafsack und beginnt, noch andere Mülltonnen zu durchstöbern.
Eine knappe Stunde später hat Gott eine ordentliche Sammlung zusammengetragen. Er sucht sich einen ruhigen Ort etwas abseits der Einkaufsstraßen, lässt sich dort auf einer Bank nieder und liest. Unglaublich, was in der Welt los ist! Eine Zeitung nach der anderen nimmt Er sich vor, und wenn Er damit fertig ist, verstaut Er die Blätter in Erwins Schlafsack. Die wird er Jesus geben. Er muss unbedingt etwas unternehmen! Erschüttert über die Lage der Menschheit, den Zustand der Umwelt und die Wettervorhersage lässt Gott die letzte Seite sinken. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie lange Er hier schon sitzt. Erwins Glieder schmerzen, die Finger sind blau vor Kälte, und der Magen knurrt schon wieder.
18
I n der Fußgängerzone herrscht Hochbetrieb. Der Heilige Abend rückt immer näher, und die mit über großen Plastiktüten beladenen Passanten eilen hektisch von einem Geschäft zum anderen. Ihr Jagdfieber macht sie blind für alles andere: für den einsetzenden Regen ebenso wie für den Mann mit den wirren Haaren, der mitten im Getümmel steht. Mehrere Male wird Gott angerempelt, einmal fällt Er sogar hin, und Erwins Schlafsack landet in einer Pfütze. Niemand bleibt stehen. Dann schließen die Geschäfte, und die Straße ist schlagartig wie leer gefegt. Nur Gott steht noch immer an derselben Stelle. Einsam, hungrig und desillusioniert. Ich wollte doch nur mit ihnen reden, denkt Er traurig. Über das, was da in den Zeitungen steht …
Plötzlich hört Er eine Männerstimme hinter sich: »Erwin?!« Gott dreht sich um und steht vor einem dicken Mann, der ihn fröhlich anstrahlt. »Kennst du mich nicht mehr? Mensch, ich bin’s, der Willi!« Willi haut ihm mit solcher Wucht seine Pranke auf die Schulter, dass Er beinahe in die Knie geht. »Erwin, alter Schwede! Wie lang ist das jetzt her … Aber sag mal, was stehst du denn hier so gottverlassen auf der Straße rum?« Schon packt Willi ihn am Handgelenk und zieht ihn mit sich, »zu Rita«, weil man sich doch so viel zu erzählen habe. »Das ist ja nicht zu fassen, dass ich dich hier treffe! Den Erwin! Wo ich doch mit meiner Alten neulich noch über dich geredet hab!« Willi knufft Gott scherzhaft in die Seite und lacht dabei herzlich. Die ganze Zeit über spricht er davon, wie toll es doch sei, dass sie sich ausgerechnet hier über den Weg gelaufen sind, und das nach all den Jahren. Die Welt sei eben doch klein, da sehe man’s mal wieder.
In der Kneipe ist es warm, Gott wird auf einem Stuhl platziert, und ehe Er sich’s versieht, steht ein großes Glas Bier vor ihm.
Und Willi redet und redet. Wie die beiden doch schon in der Schule unzertrennlich waren und dass Erwin ihn ja damals gegen den Dicken aus der Oberklasse verteidigt hat – »weißte noch?« – und über die heimlichen Zigaretten und wie sie einmal das Fräulein Wirsch beim Umziehen beobachtet haben, und und und. Jedes Mal, wenn Rita die Gläser nachfüllt, ruft Willi: »Heute besaufen wir uns!« Und das tun sie. Gott sagt nicht viel, aber Er fühlt sich wohl. Und Willi fragt nicht. Er sieht ja, wie es dem Erwin geht …
Willi winkt zur Theke hinüber und ruft so laut, dass die ganze Kneipe es hören kann: »Rita, noch eins für meinen alten Kumpel!« Und als Gott abwinkt, beugt Willi sich zu ihm und sagt: »Mensch, ich lad dich doch ein. An so ’nem Abend!« Da gibt Er sich geschlagen und trinkt mit Erwins Schulfreund ein weiteres Bier auf die alten Zeiten, auch wenn Er von ihnen keinen blassen Schimmer hat. Das Bier verursacht ein dauerhaftes Grinsen auf Erwins Gesicht und eine wohlige Trägheit in seinem Kopf. Gott lehnt sich zurück und lauscht Willis Worten. Der erzählt gerade von seiner Frau und den drei Söhnen. Da fällt ihm plötzlich ein, dass er ihr hoch und heilig versprochen hat, heute Abend früher nach Hause zu kommen, und verdammt, jetzt ist es schon nach zehn … Sie schütteln sich zum Abschied die Hände: »Mensch, Erwin!«, »Mensch, Willi!«, dann verlässt Willi die Kneipe. Nicht ohne vorher noch einmal zu betonen, dass Rita nur ja alles auf seinen Deckel schreiben soll. Gott dankt ihm im Stillen und macht, dass Willis Frau nicht sauer ist. Und eine Gehaltserhöhung soll er auch kriegen – Willi, mein Freund!
19
N achdem Willi gegangen ist, fühlt Gott sich plötzlich sehr einsam. Von dem vielen Bier ist ihm schwindelig. Er sitzt allein am Tisch, betrachtet das leere Glas, das Willi
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