Der Henker von Paris
er etwas kommen, wie in einem Kaleidoskop. Er legte sich wieder hin und spürte einen Hauch von Ewigkeit.
»Vater«, sagte Henri, »was ist mit dir?«
»Ich habe Gott gegessen«, flüsterte Charles. »Doch Gott ist nur ein Pilz«, fügte er mit einem leisen Anflug von Bedauern an, »nur ein Pilz.«
Henri löste sich aus dem Kaleidoskop. Er kniete vor seinem Vater nieder.
Der Fluss, sagte Charles melancholisch, sei der wahre Lehrmeister des Lebens. »Alles fliesst. Nichts bleibt stehen. Du kannst den Fluss nicht festhalten, Henri. Das Wasser zerrinnt in deinen Händen. So ist das Leben. Du schwimmst mit, und kein Tropfen ist von Bedeutung, aber alle Tropfen zusammen, alle zusammen mögen eine Bedeutung haben, aber es spielt keine Rolle. Hast du schon einmal versucht,dir einen Tropfen Wasser im Fluss zu merken? Am Ende spielt eh alles keine Rolle. Ob du kurz oder lange gelebt hast, die Ewigkeit relativiert die Anzahl der Jahre, die du hier auf Erden verbracht hast. Und letztendlich hat auch der Fluss keine Bedeutung.«
»Vater«, sagte Henri, »wieso sprichst du so?«
»Der Tod ist die Befreiung und das Ende aller Übel. Über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus. Er versetzt uns in jene Ruhe zurück, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden.«
Charles sass inmitten seiner Kräuter im Hof seines Hauses. Er trug eine braune Kniebundhose, graue Strümpfe und schwarze Lederschuhe, deren Rist von einer grossen Schnalle überzogen war, ein braunes Hemd und einen schwarzen Dreispitz. Er überlegte, ob er nochmals hinaufreiten und nach Pilzen suchen sollte. Doch dann vergass er den Gedanken und konnte sich mit dem besten Willen nicht mehr erinnern, woran er gerade gedacht hatte. Vielleicht an die Köpfe auf dem Friedhof. Musste er sie wieder ausgraben? Das war wohl das mindeste, was er für sie tun könnte. Vielleicht warteten sie auf ihn.
»Der Tod besucht jeden«, flüsterte Charles, »einige leben lange, andere sterben jung. So kommt der Tod zu Menschen jeden Alters, wie bei den Tieren und den Bäumen, und niemand lebt wirklich lange.«
Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Es roch nach nassem Hundefell. Nach anfänglichem Zögern berührte er die Hand und hielt sie fest. Es war Zeit für das Abendessen.
Epilog
Am 18. März 1847 betrat eine alte Frau mit schwarzem Schleier die Kirche Saint-Laurent in Paris und blieb in der Mitte des Kirchenschiffes stehen. Durch die gotischen Fenster drang nur spärliches Licht, doch die Frau sah, dass jemand in der vordersten Bank kniete. Das musste er sein. Man hatte ihr gesagt, sie würde ihn hier finden. Ihre Schritte widerhallten auf dem Steinboden. Als sie die vorderste Bank erreicht hatte, kniete sie neben dem Mann nieder und faltete die Hände zum Gebet.
»Sind Sie Henri-Clément Sanson, der Enkel des grossen Charles-Henri Sanson?«, fragte sie leise.
Der Mann rührte sich nicht. Sein Gesicht war ungepflegt und vom Alkohol aufgedunsen. Er mochte gegen fünfzig sein. »Kommen Sie mir nicht zu nahe«, murmelte er, »ich bringe den Menschen kein Glück. Auf meinem Geschlecht lastet ein Fluch. Also gehen Sie, Gott hat heute eh keine Zeit für Sie.«
»Gott hat immer Zeit«, sagte die Frau ohne jegliche Überzeugung, »oder, sagen wir, meistens.«
»Mag sein«, sagte Henri-Clément, »aber heute brauche ich ihn für mich ganz allein.« Er starrte auf das Mosaikbild über dem Altar. Es zeigte die Wiederaufstehung Jesu.
»Glauben Sie an die Auferstehung?«, fragte sie.
»Nein, Madame, ich fürchte sie. Alle meine Vorfahren haben sie gefürchtet. Weil sie die Toten fürchten. Die Rückkehr der Toten. Zuerst verspürt man nur einen feinen Luftzug. Und plötzlich sind sie da und starren. Der letzteBlick eines Sterbenden prägt sich ein wie ein Brandmal. Wir haben viele Schultern gebrandmarkt. Noch heute habe ich den Geruch von schmorendem Menschenfleisch in der Nase. Ich habe die Wunden jeweils mit Schweineschmalz und Schiesspulver eingerieben. Ich habe nicht nur getötet, ich habe auch Schmerzen gelindert, ich habe geheilt. Wie alle meine Vorfahren.« Er senkte den Kopf und versuchte zu beten. Nach einer Weile herrschte er die alte Frau an: »Finden Sie keinen anderen Ort zum Beten?«
Sie schwieg.
Er versuchte, ihr Gesicht zu sehen. Vergebens. Nachdenklich fuhr er sich über die schwarzen Bartstoppeln und flüsterte: »Mein Grossvater wollte nie Henker werden. Ich auch nicht. Ich habe diesen Beruf immer gehasst.«
»Es gab nie einen Henker wider Willen,
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