Der Henker von Paris
ihr könnt mich nicht mitnehmen. Das ist Vorschrift. Ohne rotes Hemd geht keiner aufs Schafott.«
Ein Zwerg mit schwarzem Dreispitz zupfte Charles am Ärmel. »Monsieur de Paris! Der Nationalkonvent hat verfügt, dass Schuhmacher nur noch für die Verteidiger der Nation arbeiten dürfen, und wer dagegen verstösst, dem werden alle Schuhe beschlagnahmt. Deshalb waten immer mehr Menschen barfuss im Blut. Wir kriegen die Blutströmenicht mehr unter Kontrolle. Die Erde mag das viele Blut nicht mehr aufsaugen. Das Blut steht wie ein Bergsee. Es klebt an den Barfüssigen, es klebt an den Schuhträgern, es klebt an den Rädern der Karren, an den Hufen der Pferde. Es regnet nicht mehr. Die Sonne scheint. Es stinkt. Nach Fäulnis. Gott mag es nicht, dass wir so viele Schuhmacher guillotinieren. Morgen haben wir keine Schuhmacher mehr. Ich sage Ihnen, uns werden die Schuhmacher ausgehen. Dann laufen wir alle barfuss im Blut herum.«
»Aufhören!«, schrie Charles und begann nach dem Zwerg zu treten. Doch er trat ins Leere. Da war kein Zwerg.
Die Karikatur erschien am 17. Juni 1794. Sie zeigte den Henker Charles-Henri Sanson, wie er sich selbst unter die Guillotine legt und den Eisenbolzen zieht, der das Fallbeil arretiert. »Warum guillotiniert sich der Henker selbst?«, stand in der Bildlegende. »Weil er der letzte Bürger von Paris ist. Jetzt endlich ist Paris gesäubert.«
Im Juni hatten Charles, Henri und ihre Gehilfen sechshundertachtundachtzig Todesurteile zu vollstrecken. Ein neues Gesetz war erlassen worden, das verbot, sich vor Gericht verteidigen zu dürfen. Die Radikalen um Robespierre, Saint-Just und Fouquier hatten sich derart vom Volk entfernt, dass sie ihren Wahnsinn nicht mehr erkannten. Alle wurden guillotiniert: Assignatenfälscher, Soldaten, Offiziere, Generäle, Priester, Jugendliche, Tuchhändler, Kriegsinvaliden, Behinderte, denen man zuerst die Knochen brechen musste, damit sie aufs Brett passten, gebrechliche alte Menschen, die nicht mehr allein die Treppe zum Schafotthochkamen. Die Revolutionäre brachten nicht Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern Tod und Verderben und füllten die Friedhöfe.
Jetzt regierte tatsächlich Robespierre, der die Monarchie abgeschafft hatte, um dem Bürger die Freiheit zu geben. König Robespierre. Im Ausland sprach man von Robespierres Feldzügen, von Robespierres Truppen, von Robespierres Gesetzen und auch davon, dass er die Königskrone anstrebe. Diese Gerüchte freuten seine lauernden Feinde, denn sie liessen Robespierre als Tyrannen erscheinen, den es zu stürzen galt. Als einer den Mut hatte, dies öffentlich zu machen, floh Robespierre. Er kannte die Architektur des Terrors. In die Enge getrieben, schoss er sich bei einem missglückten Selbstmordversuch den Kiefer weg. Dieser Schreibtischtäter war in praktischen Dingen sehr ungeschickt, und Anatomie war nie seine Stärke gewesen. Nicht erstaunlich, dachte Charles, als er am 28. Juli zusah, wie Henri und die Gehilfen den Schlächter Robespierre zur Guillotine führten. Zwischen dem Erlass vom 10. Juni und dem Sturz Robespierres waren 1376 Menschen guillotiniert worden.
»Jetzt fehlt nur noch einer«, sagte Charles, als Henri die Treppe des Schafotts hinunterstieg.
»Lass es gut sein, Vater, ich will dich nicht da oben in einem roten Hemd sehen. Das Terrorregime löst sich auf. Es ist bald vorbei.«
»Ich sehne den Tag herbei, an dem ich endlich abschliessen kann.«
»Du hast abgeschlossen, Vater. Du hast mir dein Amt übergeben.«
»Es fehlt noch ein Urteil«, insistierte Charles, »ich werde so lange in die Conciergerie gehen, bis der Name auf der Liste steht.«
»Du vergeudest deine Zeit, Vater.« Henri berührte sanft seinen Arm.
»Ich weiss, Henri, aber vielleicht ist es das Letzte, das ich tun werde.«
Bereits am nächsten Tag suchte Charles die Conciergerie auf. Das Büro von Antoine Fouquier.
»Klopfst du nicht mehr an, Bürger Sanson?« Fouquier beugte sich wieder über seine Akten. »Dein Sohn hat die Liste bereits abgeholt.«
»Ich habe sie gesehen, Antoine, deine Liste. Es fehlt noch ein Name.«
Fouquier blickte kurz hoch. »Oh, du bringst mir einen Namen?«
»Ja«, sagte Charles, trat hinter den Schreibtisch und fasste Antoines Schultern. »Antoine Fouquier de Tinville!«
»Lass mich los, du tust mir weh.«
»Genau deshalb bin ich hergekommen, Antoine, um dir weh zu tun. Ich wurde ausgebildet, um den Menschen Schmerzen zuzufügen. Aber ich wollte heilen.«
Antoine riss sich los
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