Der Henker von Paris
sie einfach. Wir glauben an ein Leben nach dem Tod, obwohl noch keiner zurückgekehrt ist, wir glauben an die Unbefleckte Empfängnis, obwohl es das in unserer Welt nicht gibt, wir glauben an die Auferstehung der Toten …«
»Und wir glauben an Verwünschungen, an den Segen Gottes, an Wunder und an Flüche«, sagte Jouenne und sah ihn streng an. »Du kannst noch einen Tag saufen, Sanson, dann erwarte ich dich draussen im Hof. Punkt zwei. Um vier Uhr haben wir auf der Place du Puits-Salé ein Urteil zu vollstrecken. Im Auftrag des Königs. Ich bin der Rächer des Volkes, und du bist ab morgen mein Geselle. Streng dich an. Die Menschen werden sehr zahlreich sein. Sie erwarten ein würdevolles Spektakel. Es gibt einen ersten, einen zweiten und einen dritten Akt. Und am Ende kommtder Hauptdarsteller ums Leben. Kein Pariser Theater kann diese Dramatik überbieten.«
Der Trommelwirbel über der Place du Puits-Salé verstummte. Dichtgedrängt standen die Menschen um das zwei Meter hohe Holzpodest, in dessen Mitte der Galgen thronte. Wie Fledermäuse hingen einige in den Bäumen oder an den Fassaden, um einen Blick auf das Geschehen zu ergattern. Majestätisch stieg Meister Jouenne die Stufen zum Schafott hinauf und schritt langsam die Bretter ab. Das war seine Bühne. Er trug ein hautenges Wams aus dunkelrotem Tuch, darüber einen ärmellosen ledernen Überrock, den er wie einen Brustpanzer über den Oberkörper gebunden hatte. Die schwarzen Reitstiefel reichten bis zu den Knien. Zudem trug er einen langen, weiten blutroten Mantel. Der Kragen war hochgeschlagen, so dass man nur einen Teil des kantigen Gesichts sehen konnte. Die Menge applaudierte. Dann setzte der Trommelwirbel wieder ein. Jouenne liess sich Zeit. Er nahm das schriftliche Urteil aus der Tasche und liess seinen Blick gebieterisch über die Köpfe der Menge schweifen. Man spürte förmlich die Spannung auf dem Platz. Die Zuschauer fürchteten ihn. Aber sie liebten das Schaudern, das dieser Zweimeterhüne bei ihnen auslöste. Als der Trommelwirbel erneut verstummte, brachte Jean-Baptiste Sanson den unglücklichen Bouvier die Treppen zum Schafott hoch. Der Verurteilte trug ein rotes, ärmelloses Hemd und hatte die Hände auf den Rücken gebunden. Der Geselle des Henkers trug eine schwarze Kapuze mit zwei Schlitzen auf Augenhöhe und einer kleinen Öffnung für Nase und Mund. Sie hatten sich zu dieserfreiwilligen Maskerade entschlossen, weil es die Darbietung aufwertete, aber auch damit Jean-Baptiste unerkannt blieb. Natürlich war es unwahrscheinlich, dass ihn einer der Gaffer erkennen würde, aber wenn ein Fluch auf ihm laste, sei alles möglich, hatte Jouenne gesagt und gedankenverloren den düsteren Wolken nachgeschaut, die langsam über das verwunschene Gehöft hinweggezogen waren.
Mit einer unheimlichen Donnerstimme verlas nun Jouenne das Urteil. Bouvier sollte gebrandmarkt und anschliessend gehängt werden. Er hatte Brot gestohlen und dann den wütenden Bäcker erschlagen, der ihm durch das ganze Städtchen gefolgt war. Erneut wurde die Trommel geschlagen. Auf dieses Zeichen hin zerrte Jean-Baptiste den Verurteilten zum Pflock in der Mitte der Holzbühne. Er drückte Bouvier nieder, zwang ihn in die Knie und zerriss das rote Hemd. Das Markeisen glühte bereits im Kohlenbecken. Meister Jouenne ergriff das Eisen und drehte es mehrmals in der Glut. Dann drückte er es auf die rechte Schulter des Verurteilten. Zischend verbrannte die Haut. Der Gestank wehte über die Place du Puits-Salé, während Bouvier einen markerschütternden Schrei ausstiess und von Jean-Baptiste kaum noch zu bändigen war. Meister Jouenne schritt mit erhobenem Kopf das Schafott ab. Die Menge applaudierte. Jean-Baptiste packte Bouvier von hinten an den Oberarmen und stellte ihn auf die Beine. Es wurde plötzlich sehr still auf dem Platz. Dann legte er Bouvier die Schlinge um den Hals und zog sie fest. Bouvier stand beinahe apathisch auf der geschlossenen Falltür und schloss die Augen. Als Jouenne ihn laut fragte, ob er noch etwas zu sagen habe, schüttelte Bouvier energisch den Kopf. Er wollte es rasch hintersich bringen. Jean-Baptiste vergewisserte sich, dass er nicht auch auf der Falltür stand. Als Jouenne ihm zunickte, ruhig, unaufgeregt, ohne emotionale Teilnahme an Bouviers Schicksal, löste Jean-Baptiste den Mechanismus aus. Die Falltür öffnete sich, und Bouvier sauste wie ein Sack Mehl in die Tiefe, bis das Seil den Fall ruckartig bremste. Das Gewicht des fallenden
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