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Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)

Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)

Titel: Der Herr der Tränen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Bowring
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Diebin übergegangen waren. Jetzt konnten sie anscheinend nicht dorthin zurückkehren, wohin sie gehörten.
    Ehe er lange darüber nachdenken konnte, schoss das Bündel geradewegs auf ihn zu. Er wollte die Hand hochreißen, um es abzuwehren, doch es war zu schnell und prallte ihm gegen die Brust – nein, nicht gegen die Brust, sondern mitten ins Zentrum seines Wesens – und verwob sich mit dem Muster seiner Strukturen. Es schmerzte zwar nicht gerade, erzeugte aber dennoch einen Aufruhr in ihm, als sich manche Teile lösten und wieder verbanden, um Platz für die neuen Fäden zu machen. Er spürte eine innere Bewegung von Linien zu seinem Mund, und seine Lippen begannen zu kribbeln.
    Nein, dachte er und fürchtete sich vor dem Reißen seines Fleisches.
    Er konzentrierte sich und hielt seine eigenen Fäden zusammen. Die Linien wurden von seinen Lippen zurückgewiesen, bogen ab nach unten und schlangen sich in das größere Bündel. Dieses schien sich nicht beruhigen zu können, weil stärkere, sesshaftere Strukturen nicht weichen wollten.
    Du kannst nicht dorthin gehen, wohin du willst, oder?
    Das Bündel breitete sich trotzdem in ihm aus und schien nach anderen Wegen zu suchen. Er stand starr da, konnte sich nicht bewegen oder auch nur tief durchatmen, während sich in seinem Inneren die Neuordnung seines Ichs abspielte, bis er beinahe stehend ohnmächtig geworden wäre.
    »Rostigan?«
    Tarzi berührte ihn an der Schulter. Wie viel Zeit war verstrichen? Es fühlte sich nicht nach Augenblicken an, dennoch ließ an ihrem Benehmen nichts darauf schließen, dass sie länger so gestanden hatten. Sie war nervös, aber ihre Blicke kehrten immer wieder zu den Überresten der Diebin zurück.
    »Können wir gehen?«
    Rostigan spürte die neuen Fäden in sich nicht mehr. Es war widerwärtig, denn er vermutete, dass sie sich mit seinen eigenen verbunden hatten und nun nicht mehr als Fremde erkannt wurden. Fühlte er sich verändert? Ganz sicher war er sich nicht. Als die Wächter die gestohlenen Fäden vom Herrn der Tränen aufgenommen hatten, waren sie dadurch in ihren Fähigkeiten und in ihrer Persönlichkeit verändert worden. Ehemals gute Menschen hatten plötzlich unaussprechliche Gräueltaten begangen, ohne jeden ersichtlichen Grund außer Gier und Vergnügen. Würde er jetzt einen überwältigenden Drang verspüren, die Welt ihrer Schönheit zu berauben, wie es der bevorzugte Zeitvertreib der Diebin gewesen war? Nein, das glaubte er nicht. Denn er hatte sich geweigert, den entsetzlichen Mund zu übernehmen, und vielleicht hatte er auch dem Rest ausweichen können? Strukturen waren nicht immer gleich, und er hatte diesem Bündel den gewünschten Platz verwehrt.
    Er bemühte sich, seine Sorgen vor Tarzi zu verbergen, während sie den Rückweg antraten.
    »Also«, sagte sie nach einer Weile und wirkte gelöster, nachdem sie die Diebin hinter sich gelassen hatten, »Silberstein sollte doch jetzt zurückgekehrt sein, oder?«
    Rostigan grunzte unentschlossen. Der Pfad, über den sie gingen, war noch in dem Zustand, wie die Diebin ihn geschaffen hatte. Die Bäume jedenfalls waren nicht wieder zurückgekehrt.
    »Bei der Großen Magie«, fuhr sie fort, »das ist wirklich ein Ding. Ich kann es immer noch nicht glauben, Rostigan – du hast tatsächlich die Diebin getötet!«
    »Ja«, brachte er krächzend hervor.
    Die Nacht verbrachten sie auf der Lichtung am Bach, wo der Boden flach und trocken war. Rostigan schlief nicht, sondern lag wach da und versuchte herauszufinden, was in ihm vorgegangen war. Vielleicht hatte er sich alles nur eingebildet, und vielleicht waren die Fäden der Diebin nur in seine Richtung getrieben, als sie sich wieder in die Große Magie einfügten. Vielleicht hatte es nur den Eindruck erweckt, dass sie in ihn eindrangen, während sie nur durch ihn hindurchgezogen waren. Aber sosehr er sich das wünschte, so wenig vermochte er es selbst zu glauben.
    Er erhob sich und ging mit Buch und Feder der Diebin zum Bach. Als er dort saß, sprang ein einsamer Fisch aus dem Wasser, der vielleicht auf das silberne Gesicht am Himmel zuschwimmen wollte. Rostigan runzelte die Stirn und hielt die Feder über das Papier. Reimen war noch nie seine Stärke gewesen. Nachdem er eine Weile lang nachgedacht hatte, entschied er, dass es keine Rolle spielte, wie gut die Verse waren, und schrieb:
    Während das Mondlicht schwindet,
der Fisch zurück ins Wasser findet.
    Es folgte ein leises Platschen, dann war der Fisch wieder

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