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Der Herr der Tränen

Der Herr der Tränen

Titel: Der Herr der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Bowring
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alle Hoffnung, ins Tal einzudringen, schwand. Die Welt war verdammt, vom chaotischen Ehrgeiz des Herrn der Tränen verschlungen zu werden.«
    »Dann kamen die Wächter!«, rief jemand aufgeregt.
    Tarzi zog eine Augenbraue hoch, als wolle sie sagen: »Das ist meine Geschichte«, und wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war.
    »So ist es. Acht heldenhafte Fadenwirker – die besten, die Aorn hervorgebracht hatte – schlossen sich gegen den Wahnsinnigen zusammen. Sie nannten sich die ›Wächter‹ und zogen über die Roshausgipfel, ein Gebirge, das selbst in guten Zeiten als gefährlich galt, in dem es jetzt jedoch von den Geschöpfen des Herrn der Tränen wimmelte. Auf diesem Weg näherten sie sich dem Tal von Norden her und mieden den südlichen Zugang, wo sich die Heere des Wahnsinnigen und Aorns gegenseitig niedermachten. Von einem hohen Aussichtspunkt erspähten sie den Turm des Herrn der Tränen. Darüber schwebte etwas in der Luft – ein eigenartiger Riss, eine Wunde im Himmel. Dadurch wurden, für alle sichtbar, die Fäden der Großen Magie enthüllt. Hier also hatte der Herr der Tränen den Schleier der Welt zerrissen.«
    Tarzi stocherte im Feuer, und Funken stoben auf.
    »Die Wächter stiegen auf das Dach des Turms und prüften, ob sie die Wunde schließen konnten. Dort wurden sie vom Herrn der Tränen gestellt, während sie sein Werk rückgängig machen wollten. Und glaubt ihr, dass er sich darüber freute?«
    Sie legte das Schüreisen zur Seite und breitete die Hände aus, als wollte sie einen Zauberspruch beschwören. Die vorderen Zuhörer zogen ängstlich die Köpfe ein.
    »Nein«, zischte sie, »natürlich freute er sich nicht! Er war sogar äußerst unglücklich, und wenn der Herr der Tränen unglücklich war, strahlte das Elend von ihm aus wie grauer Dunst. Es rief jedem, der davon erfasst wurde, alles in Erinnerung, was er in seinem Leben falsch gemacht hatte, all seine Fehler, alle schlechten Entscheidungen, jede ungünstige Wendung des Schicksals, bis er sich nur noch wie ein blasses Abbild dessen fühlte, was aus ihm hätte werden können, hätte er seinem Leben ein wenig mehr Aufmerksamkeit geschenkt.«
    Diese Vorstellung löste bei vielen Schaudern aus.
    »Der Trostlosigkeit zum Trotz kämpften die Wächter weiter. Es heißt, der Kampf habe einen Tag und eine Nacht gedauert. Allerdings verstrich die Zeit für die Beteiligten anders. Der Herr der Tränen hatte sein eigenes Geflecht in unnatürlicher Weise neu gewoben und sich zusätzliche Kräfte verliehen, die er bei seiner Geburt noch nicht besessen hatte – er konnte sich sogar mitten im Kampf in eine seiner schrecklichen Kreaturen verwandeln. Er bekam Fledermausflügel aus Menschenhaut, Fleisch statt Haar und glühende Augen.«
    Rostigan saß allein hinten im Raum und versteckte sein zaghaftes Lächeln hinter seinem Krug. Als Tarzi die Geschichte zum letzten Mal erzählt hatte, waren dem Herrn der Tränen ein Eidechsenschwanz und brennende Finger gewachsen. Sicherlich hielt sie es für notwendig, solche Einzelheiten zu erfinden, denn über den eigentlichen Kampf war wenig bekannt.
    »Seite an Seite«, fuhr Tarzi fort, »gelang es den Wächtern, die Oberhand zu erlangen. Manche sagten, es sei Yalenna gewesen, die am Ende dem Herrn der Tränen das Herz in der Brust bersten ließ, anderen zufolge war es Mergan oder die ganze Gruppe, die ihn in Stücke riss und auf dem Dach verstreute. Eines jedenfalls ist sicher: Der Herr der Tränen war endlich tot.«
    Sie erzählte weiter: »Und die Fäden, die er aus der Großen Magie gestohlen und in sein eigenes Ich eingefügt hatte? Um sich Kraft zu verleihen und übernatürliche Fähigkeiten zu erlangen? Was, glaubt ihr, geschah mit denen?«
    Tarzi sah einen Jungen an, der im Schneidersitz dasaß und sie mit großen Augen anstarrte.
    »Sie gingen auf die Wächter über«, sagte sie und legte dem Jungen die Hand mit gespreizten Fingern auf die Brust, »und wurden ein Teil ihrer eigenen Muster! Sie drangen in sie ein und machten sie zu etwas, das sie zuvor nicht gewesen waren. Keiner von ihnen würde weiter altern,
vielleicht weil die Fäden, die sie nun in sich trugen, zu wichtig waren, zu dauerhaft. Aber nicht nur das wurde verändert. Plötzlich standen ihnen fremde Fähigkeiten zur Verfügung. Manche Wächter, etwa Forger und die Diebin, wurden vollkommen verändert, waren plötzlich restlos verkommen und blutrünstig und verfielen durch die Verwandlung dem Wahnsinn. Ihre alten Kameraden erkannten sie

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