Der Herr der Tränen
und zogen durch ein Tal, in dem die Bäume höflich Platz gemacht hatten. Bald blieb von den Wellen nur ein ferner, durch die bewaldeten Hügel gedämpfter Widerhall. Als sie um eine Anhöhe herumgingen, stießen sie auf eine gepflasterte Straße.
»Gut«, sagte Tarzi, »vielleicht sind wir gar nicht mehr so weit von Silberstein entfernt.«
»Nein, wir sind schon sehr nahe.« Rostigan starrte die Straße düster an. Kein Wunder, dass Tarzi langsam ungeduldig wurde – sie mussten weiter an der Küste entlanggezogen sein, als ihm aufgefallen war, sonst wären sie noch nicht hier. »Vielleicht erreichen wir die Stadt sogar vor Anbruch der Nacht.«
Die Straße führte durch hügeliges Land, bergauf und bergab. Auf einer Erhebung kamen sie an einem Wachturm vorbei, einem wackeligen Holzbau mit leerem Kohlenbecken auf dem Dach.
»Eigenartig«, sagte Tarzi. »Wo ist die Wache?«
Rostigan zuckte mit den Schultern. Mit seinem Weitblick suchte er die Ferne nach Bewegungen ab. An einem Bach lief eine Gestalt durchs Schilf. Sie trug einen engen roten Mantel, das Gesicht war von einem Tuch und einem breiten Hut verdeckt. Vermutlich war es eine Frau. Sie verschwand zwischen den Bäumen.
»Ich weiß nicht«, murmelte er.
»Wenn ich mich nicht irre, liegt Silberstein hinter dem nächsten Berg.«
Es ist so ruhig, dachte er. Wir müssten die Stadt eigentlich schon hören.
Sie gingen weiter und stiegen auf den nächsten Hügel. Von dort schauten sie über das alte Tal mit seinem Schwemmland, auf dem Silberstein erbaut worden war. Seinen Namen hatte die Stadt von den glänzenden Steinblöcken bekommen, die man als wichtigsten Baustoff verwendet hatte. Die prächtigen Häuser zogen sich die Hänge hinauf bis ganz nach oben zu den Tempeln. In dem reichen Ort, der für seine Badehäuser und das dampfende Mineralwasser aus den Bergen berühmt war, hatte stets geschäftiges Treiben geherrscht.
»Bei der Großen Magie«, sagte Tarzi. Ihr fiel die Kinnlade herunter. »Was … wie kann das sein?«
Dort, wo Silberstein gestanden hatte, war nur noch eine weite Strecke kahlen Erdreichs zu sehen. Seine Grenzen zogen sich über die Ebene und die Berge hinauf und bildeten einen riesigen braunen Kreis. Es war, als hätte jemand jeden Stein, jedes Haus, jeden Menschen und alle Gegenstände einfach weggenommen, und nichts, aber auch gar nichts, zurückgelassen.
Die Bestürzung erzeugte einen Geschmack wie von bitterer Galle in Rostigans Mund. Der Lockenzahn schien sogar dieses Aroma zu verstärken.
War das seine Schuld?
»Rostigan!«, schrie Tarzi und packte seinen Arm. »Wo ist die Stadt?«
»Pst«, erwiderte er und hob eine Hand. Sie verstummte und fragte sich, wem er lauschte. Dann hörte sie es auch: eine Stimme, weiblich und poetisch, geisterhaft und flüchtig. Sie war zu leise, als dass man die Worte hätte verstehen können, doch sie trieben wie Wind getragen heran.
Hochmut, sagt man, kommt vor dem Fall.
Doch Silberstein steht stark und prall.
Darauf folgte ein glockenhelles Lachen, das im raschelnden Gras verhallte.
Rostigan befiel ein eigenartiges Gefühl. War es Entsetzen, oder war es Erleichterung?
»Was war das?«, fragte Tarzi verängstigt.
»Auf den Boden.« Er drückte sie nach unten.
»Au!«
»Wir wollen nicht, dass man aus der Ferne über uns schreibt.«
»Was redest du da?«
Konnte es wirklich sein? War es tatsächlich möglich?
Er erinnerte sich an die Gestalt, die zwischen die Bäume geflohen war. Wer mochte das gewesen sein? Jemand, der Angst vor dem hatte, was er hier gesehen hatte? Oder sie?
»Die Diebin«, murmelte er.
»Die Diebin?«, wiederholte Tarzi erstaunt. »Was redest du da? Sie ist vor Hunderten von Jahren gestorben.«
»Ja«, sagte Rostigan. »Und die Ritter von Silberstein haben sie getötet.«
DIE DIEBIN
Rostigan hoffte, dass er übertrieb, doch die Gefahr schien real zu sein.
»Komm, Tarzi«, sagte er und bemühte sich, keine Unsicherheit preiszugeben, während er seine Gedanken sammelte. »Du kennst die Geschichten über sie, und zwar vermutlich besser als ich. Komm mit – hier fallen wir auf wie zwei Furunkel auf einer Arschbacke.« Er schob sich rückwärts den Hang hinunter.
»Ja, natürlich«, knurrte sie und folgte ihm schnaufend, »aber es sind Geschichten, keine wahren Begebenheiten!«
»Pst!« Ihre Stimmen hallten über die gespenstisch stillen Hügel. »Hier.« Er kroch zu einem Gebüsch am Wegrand.
Tarzi spähte durch die Blätter, als könnte die Stadt plötzlich wieder
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