Der Herr der Welt
Macht ein weiteres Mal einzusetzen. Diesmal, um sie und Kierszan in Anums Festung zu versetzen. Dabei hatten sie aber peinlich darauf geachtet, keine feste Materie zu durchdringen.
Nein. Es ist nicht wegen Rudnik, antwortete Kierszan. Ich habe einfach noch nicht die Kraft, um unsere Körper zu holen.
Wenn nicht jetzt, wann dann? dachte Nona. Woher würde Kierszan die fehlende Kraft nehmen wollen?
Nein, sie war überzeugt davon, Recht zu haben: Er dachte an Rud-nik. Er hatte Angst davor, es wieder zu versuchen.
Kaum hatte sie diese Gedanken ausformuliert, spürte sie, daß etwas geschehen war.
Kierszan war fort! Er war ganz plötzlich nicht mehr bei ihrem Bewußtsein.
Kierszan! rief sie, doch er antwortete nicht. Wollte er nicht antworten? Schwieg er aus Angst?
Nona registrierte, wie sich ihre Irritation in Sorge und dann in Wut verwandelte. Sie hatte nicht damit gerechnet, mit einem Feigling zusammenarbeiten zu müssen. Tief in ihrem Inneren verstand sie Kierszans Zögern - aber sie konnte es nicht gutheißen. Dafür stand zu viel auf dem Spiel.
Vor allem für sie selbst .
Sie schickte ihre Geistfühler aus, doch Kierszan blieb verschwunden. Nonas Wut steigerte sich zu wahren Mordgelüsten, als sie sich darüber klar wurde, wie sehr sie sich ihm ausgeliefert hatte. Kierszan allein konnte ihren Zustand verändern. Wenn er ihr nicht half, würde sie für immer in diesem Zustand verweilen, während ihr Körper langsam in seinem Versteck vermoderte.
KIERSZAN!
Ihre Wut mußte ihn erreicht haben, denn plötzlich konnte sie ihn wieder hören.
Du mußt mir noch etwas Zeit geben, Nona. Ich bitte dich!
Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er sich ihr abermals entzogen. Nona fluchte. Sie hatte weder die Geduld noch Muße, tatenlos auszuharren. Genausogut konnte sie sich in der Festung weiter umsehen.
Geh nicht! erreichte sie Kierszans warnender Ruf.
Warum sollte ich nicht? fragte sie aufsässig.
Wenn du gehst, könnte es sein, daß wir uns verlieren, warnte er.
Unsinn! widersprach Nona. Du bleibst einfach hier und siehst zu, daß du wieder zu Kräften kommst, während ich mich ein wenig umsehe.
Du verstehst nicht, sagte Kierszan. Ich sprach von der Gefahr, uns auf immer zu verlieren . ..
Im nächsten Moment konnte Nona ihn nicht mehr vernehmen.
Dann eben nicht, dachte sie. Die Frage, was zu tun war, hatte sich von selbst beantwortet. Sie sandte ihren Geist erneut auf Reisen. Ohne Kierszans Hilfe war es jedoch viel schwieriger, als sie gedacht hatte. Sie kam nur mühsam vorwärts. Unsichtbare Fäden schienen sie wie zäher Schleim zurückhalten zu wollen. Ihre Sichtweise war getrübt. Es war, als würde sie mehrere Realitätsebenen gleichzeitig erblicken.
Dennoch zog es sie weiter. Das Bild von Anum und Lilith hatte sich in ihrer Erinnerung eingebrannt.
Lilith Eden!
Nona und Kierszan hatten sie in einer Art Zelle entdeckt. Aber die einst so starke Halbvampirin hatte sich verändert! Fassungslos hatte Nona mitansehen müssen, wie Anum den Raum betreten hatte und Lilith ihm Liebesdienste wie eine unterwürfige Sklavin erwiesen hatte.
In diese Zelle, aus der sie bei Kierszans Schwächeanfall geflohen waren, zog es Nona nun zurück. Vielleicht waren die beiden ja noch immer in ihrem Liebesspiel vereint.
Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich genau befand. Anums Festung war kein Gebäude im eigentlichen Sinn. Die meisten der Gänge und Räume, die sie durchquerte, schienen halborganischer Struktur zu sein. Ihre Substanz erinnerte Nona an Magenwände und rohes, umgestülptes Fleisch. Wie eine noch unfertige Skulptur schien alles in einem noch unfertigen Zustand und in Veränderung begriffen. Ein-mal zuckte Nona zurück. Der Gang, den sie gerade betreten hatte, begann sich zu verändern. Er preßte sich zusammen, bis sie zu erstickten glaubte, schaukelte hin und her, verknotete sich zu wahnsinnigen Gebilden und explodierte schließlich zu einem riesigen Kuppelsaal aus schwarzen, sehnenartigen Strängen.
Anums Festung wurde organischer, je mehr Nona ins Innere gelangte, während sie nach außen hin aus anorganischem Material bestand. Nona kehrte um. Die Zelle, in der sie Lilith entdeckt hatte, lag in der Peripherie der Festung.
Wenn es nur irgendwelche Orientierungspunkte gegeben hätte! Alles sah mehr oder weniger gleich aus.
Vor ihr tauchte ein Lichtfleck auf. Sie trieb darauf zu. Ehe sie es verhindern konnte, hatte sie das Licht erreicht. Im letzten Moment erkannte sie, daß es Tageslicht war, das durch
Weitere Kostenlose Bücher