Der hinkende Rhythmus
Teufelsbraten
Je eine blaue Plastiktüte in den Händen stieß Güldane mit ihrem Fuß das Gartentor auf und trat ein. Mit dem Schlüssel, den sie aus der Tasche ihres Kleids mit Volantrock und bordeauxrotem Blumenmuster auf grünem Untergrund herausfischte, schloss sie die Haustür auf. Als sie ihre Schuhe mit den ordentlich zerfressenen Absätzen und Sohlen, die sich an den Seiten allmählich ablösten, vor der Tür auszog, fiel ihr Blick auf den Spiegel. Etwas, das einem gerade erblühten Hibiskus ähnelte, schaute sie an. Ihre hennagefärbten Haare, die unter dem eilig zusammengebundenen leichten Kopftuch hervorquollen, fielen zu beiden Seiten auf ihre Schultern, die Strähnen auf ihrer Stirn beschatteten ihre waldgrünen Augen. Dieses Farbspektakel gefiel Güldane. Dann blieb ihr Blick wieder auf ihren Sommersprossen hängen. Sie strich über ihre Wangenknochen und versuchte sogleich mit einer Inständigkeit, die sie nicht ablegen konnte, diese kleinen Pünktchen wegzuwischen; es ging nicht. Ihre Miene verdüsterte sich. Seit ihrem fünften Lebensjahr, seitdem sie ihre Sommersprossen entdeckt hatte, hasste sie sie. Nun war sie fünfzehn und diese verflixten Dinger wurden von Jahr zu Jahr zahlreicher. Als sich Güldane auf den Weg zur Küche machte, verschwand in dem holzumrahmten Spiegel mit abgebrochenem Rand das überwältigend schöne Bild, strahlend wie ein wildes Tier, verlockend wie Lebenselixier; zurück blieben die Ecke eines Sofas, bedeckt mit einem ausgeblichenen, rosengemusterten Tuch, ein hölzerner Stuhl mit abgeblätterter Farbe und eine schmutziggrüne Wand mit einem verrosteten Nagel.
Güldane leerte ihre Beutel auf der Küchentheke: zwei Packungen Milch, Reis, Nudeln, drei Schachteln Samsun-Zigaretten, zwei Packungen Sonnenblumenkerne, ein Bund Petersilie, drei Zitronen … Aber dieser Krimskrams ließ sie völlig kalt. Sie griff zu einer der blauen Plastiktüten und ging ins Wohnzimmer. Sie setzte sich auf das Sofa, stülpte die Tüte über ihren Kopf und band die Enden um ihren Hals so fest, dass sie sich fast die Luft abschnürte.
In dem Beutel vermischte sich ihr Atem nur mit ihrem eigenen. Der Plastikgeruch füllte ihren Rachen und jedesmal, wenn sie ein- und ausatmete, spürte sie den Zwang, ihren Mund noch weiter zu öffnen. Das eigene Dasein oder die eigene Abwesenheit so bewusst zu erleben, bereitete ihr eine Wonne, die nur schwer zu beschreiben war. Ihr Gedächtnis schwebte über ihrem winzigen Leben von fünfzehn Jahren wie ein Schaukelstuhl hin und her … Die üppigen Brüste ihrer Mutter, der nach Rauch riechende Atem ihres Vaters, ihr flaumhaariges Bein, das durch ihr zerrissenes Kleid hindurchschimmerte, die Flitter ihres leichten Kopftuchs, das sie sich manchmal um die Taille band, die Feuerzange, die Finger von Yunus, die auf das Tamburin schlugen, die Frösche, ihre Plastikschuhe, beschmiert mit dem Schlamm des Bachs, das Maul des Löwen, ihre schmutzige Unterhose, der Schmetterling, der an die Scheibe klatscht, graue Wolken und noch nie geträumte Träume flogen, mal nacheinander und mal ineinanderfließend, durch ihr Gedächtnis. Da hörte Güldane einen Laut aus der Ferne. Das Tamburin von Yunus schlug einen Neunachtelrhythmus. Track … tack tack ta tack … trrraaack tack.
Güldane stand auf. Die blaue Plastiktüte über dem Kopf, mit den Armen die Luft schneidend, fing sie an, sich gemeinsam mit der Welt drehend, zu tanzen. Tack tack … ta tack tack … Yunus schlug auf das Tamburin und Güldane wog ihren Hals, kreiste ihre Hüften, ließ ihre Schultern erzittern, schüttelte ihre Brüste. Langsam und gemächlich schlug sie in die empfindlichsten Stellen der Musik. Sie schlug hinein mit ihrer Brust, mit ihrem Bauch, mit ihren Fingern. Güldane, die mit der Plastiktüte über dem Kopf durch ihren eigenen Atem wanderte, schlug auf dem Grund der Welt auf. Ihr Körper und ihre Seele wurden in die entferntesten Winkel auseinandergeschleudert. Schließlich lag sie patsch! der ganzen Länge nach auf dem Boden.
Ihr war die Tüte vom Kopf abgenommen, sie war auf das Sofa gelegt worden. Alle Romafrauen des Viertels hatten sich um das Mädchen versammelt. Ihre Mutter Safiye an erster Stelle. Sie trommelte mit ihrer Faust auf ihre gewaltigen Brüste, wobei sie zugleich weinte und mit ihrer Tochter schimpfte.
Güldane lauschte den Stimmen um sie herum, bevor sie ihre Augen öffnete … Die Schreie ihrer Mutter, das Murmeln der anderen Frauen, das Geklirr der Armreifen aus
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