Der Hirte, Teil 2 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)
und machte einen Schritt beiseite.
"Ist er da, wo Mama ist?", schluchzte Blanka.
"Nein", sagte Rainald grimmig, "er ist da, wo in der Hölle ein Platz für verdammte Wölfe reserviert ist."
"Aber er sieht gar nicht böse aus", sagte Blanka. "Er sieht ein bisschen aus wie Bischof."
"Wie wer?", fragte Schwester Venia.
Rainald warf ihr einen Seitenblick zu. "Wie Bischof. Ich hatte zwei Hunde. Einer davon hieß Bischof." Er räusperte sich. Die Schwester lächelte. "Wie hieß der andere? Papst?" "Nein, König."
"Du hast deine Zuneigung gerecht aufgeteilt. Wo sind die Hunde jetzt?"
Ein Bild blitzte in Rainalds Hirn auf. Blanka hatte Recht - die Hunde hatten nicht viel anders dagelegen als der Wolf zu seinen Füßen. Rainald hatte es geschienen, dass die Pfeilschäfte in ihren zusammengekrümmten Körpern immer noch wippten.
"Tot", sagte er.
"Er sieht gar nicht böse aus", sagte Blanka.
"Glaubst du, dass das einer aus dem Rudel ist, das euch angegriffen hat?"
Rainald gab dem Kadaver einen leichten Tritt. Er erinnerte sich an den Aufprall des Wolfs; er hatte ihn nicht einmal ins Wanken gebracht.
"Nein", sagte er. "Das ist ein Einzelgänger. Seht ihn Euch an nur Haut und Knochen. Uralt. Wohin immer er gehört hat, sie haben ihn ausgestoßen, als er nicht mehr mithalten konnte. Der ist nur zufällig auf uns gestoßen."
"Ich dachte, du hättest ihn für einen Späher gehalten und wolltest verhindern, dass er zum Rudel zurückkehrt." "Nein", sagte Rainald.
"Du hast ihn sogar absichtlich angelockt. Wahrscheinlich hättest du ihn mit einem Schneeball vertreiben können." "Ja."
"Warum hast du das getan?"
Rainald antwortete nicht. Er schob das Schwert zurück in die Scheide, stieg über den toten Wolf hinweg und kniete sich neben Blanka nieder.
"Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Das Biest ist tot." "War er böse?"
"Ja."
"Er sieht gar nicht böse aus", sagte Blanka zum dritten Mal. Rainald wechselte unwillkürlich einen Blick mit Johannes und fühlte sich merkwürdig erleichtert, als der Junge mit den Schultern zuckte und ein Gesicht zog, das zu sagen schien: Hör nicht drauf. Er richtete sich auf und klopfte Blanka unbeholfen auf die Schulter.
"Du brauchst keine Angst mehr zu haben", wiederholte er. Die Wölfe suchten sich diesen Moment aus, um erneut zu heulen.
Der Wald endete so abrupt, dass es klar war, jemand hatte ihn bis hierher gerodet und dann aufgegeben. Das Gelände fiel steil zum Fluss ab, durchsetzt mit den geduckten Formen der Baumstümpfe, die auf der windzugewandten Seite unter einer Schneehülle versteckt waren. Rainald blieb stehen und musterte den Abhang, den schmalen Streifen flachen Ufers, das mit einem schmalen Eissaum in das breite schwarze Band des Flusses auszugreifen begann … die grauen, braunen und mattgrünen Farben des Waldes behaupteten sich überall dort, wo keine Rodungen vorgenommen worden waren, griffen an den schneebedeckten, baumlosen Flächen links und rechts vorbei und schoben sich bis an den Fluss vor. Am jenseitigen Ufer war die geräumte Fläche noch enger, lag wie ein zerrissenes Tuch um den einen mächtigen Baum herum, der stehengelassen worden war und um den sich das Ankerseil der Fähre wickelte. Das Gierseil hing im Fluss und wippte in der Strömung, furchte eine Querrille aus Spritzern hinein. Die Straße von und zur Stadt wand sich auf dieser Seite heran, die Schneedecke darauf unberührt. Die Wölfe hatten schon vor einiger Zeit zu heulen aufgehört. Das Schweigen rauschte in Rainalds Ohren. Die halb verwehten Baumstümpfe sahen aus wie kauernde Tiere, bereit, jederzeit aufzuspringen. Rainald ertappte sich dabei, wie er versuchte, Löcher in den Schnee zu starren.
„Wo ist die Fähre?“, keuchte Schwester Venia neben ihm. „Hinter der Hütte. Man sieht sie nicht von hier aus.“ Damals hatte er sie auch nicht gesehen. Aber die Hütte war etwas gewesen, in dem man in Deckung gehen und sich auch gegen eine Übermacht eine Weile verteidigen konnte, die Bewohner waren vermutlich Bauern, die sich in einer Ecke zusammenkauern und ihn nicht behelligen würden. Es war Spätsommer gewesen, der Fluss tiefblau, der Wald auf der anderen Seite staubig grün, der Schmerz und die Wut in Rainalds Herz noch immer so wach, als wären nicht bereits sechs Monate vergangen gewesen, seit sein Leben zertreten worden war, hinter ihm die Rufe und das Wiehern der Verfolger. Er hatte das Schwert gezogen und war hinuntergesprengt, bereit für sein letztes Gefecht – dann hatte er erkannt, dass
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