Der Hirte, Teil 2 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)
schluckte.
Die Bestie vorn zwischen den Bäumen zuckte zusammen und knurrte. Ihre Flanken zitterten. Rainald hatte das Gefühl, dass der Blick aus den gelben Augen über die ganze Distanz hinweg direkt ihn traf. Er fühlte den Hass und die Gier und versuchte, ihm seinen eigenen Hass entgegenzusetzen. Es schien ihm, dass er mit einer Kerzenflamme gegen das Sonnenlicht anzuleuchten versuchte. Von den Lefzen des Wolfs tropfte Geifer, seine Pfoten scharrten im Schnee. "Ist das einer von denen?", flüsterte Schwester Venia. "Geht alle ganz langsam zurück", wiederholte Rainald. "Papa, was hast du vor?" Rainald zog es vor, seinem Sohn keine Antwort zu geben.
Der Wolf vollführte einen komplizierten Tanz aus Erregung, Unschlüssigkeit und Mordlust. Seine Augen zuckten. Rainald versenkte seinen Blick darin. Er sah, wie sich das Zucken verstärkte. Es mochten hundert Schritt zwischen ihnen sein, aber Rainald konnte den Wolf riechen, konnte jedes Härchen auf seiner vor Wut gekräuselten Schnauze sehen und glaubte zu hören, wie der Geifer im Schnee zischte.
"Wird's bald?"
Er fühlte, wie sie langsam zurückwichen. Der Wolf gab ein Geräusch von sich. Rainald machte einen zögernden Schritt nach vorn. Der Wolf drehte sich einmal um sich selbst, aber die Gier hielt ihn auf seinem Posten. Rainald nestelte das Tuch von seinem Gürtel, mit dem er sich vor dem Eintritt in die Kapelle vom Blut Caesars gesäubert hatte, und wedelte damit. Der Geruch, so schwach er war, schien den Wolf sofort zu erreichen; er winselte.
"Komm her, du Mistvieh", flüsterte Rainald.
Der Wolf warf den Kopf zurück, doch statt zu heulen schnappte er nur nach seinem eigenen Schwanz. Rainald kniff die Augen zusammen. Der Wolf zog sich hinter einen Baum zurück und kam sofort wieder nach vorn. Rainald wurde klar, dass er im nächsten Augenblick entweder angreifen oder fliehen würde, und erkannte, dass er der Bestie bei ihrer Entscheidung würde helfen müssen. Er blieb stehen, fing den Blick aus den gelben Augen ein, dann sank er wie vom Schlag getroffen zu Boden. Er hörte den erschrockenen Aufschrei seiner Kinder und biss die Zähne zusammen.
Der Schnee war nass und kalt. Das blutige Tuch lag direkt vor Rainalds Gesicht, der Geruch teilte sich nun auch ihm mit. "Rainald?" Schwester Venias Stimme klang unsicher. Rainald drehte den Kopf ganz langsam herum. Er schrak zusammen, als er erkannte, wie nahe der Wolf schon an ihn herangekommen war. Er hatte gedacht, das Tier würde noch lange brauchen, um sich zu entscheiden, über den vermeintlich Verletzten herzufallen …
Wahrscheinlich rettete das Zusammenzucken ihm das Leben. Der Wolf, eine graubraune Gestalt, die über den Schnee flog wie ein Geschoss aus Muskeln, Sehnen und blanker Mordlust, stolperte bei der plötzlichen Bewegung seiner Beute. Rainald kam in einer Explosion aus Schnee, fliegenden Fellen und geschwungener Schwertklinge in die Höhe. Er brüllte. Der Wolf sprang. Einen halben Augenblick lang waren Biest und Mann eins, dann traf die Klinge da, wo sie auch bei einem menschlichen Gegner getroffen hätte, schnitt durch Fleisch und Muskeln und Rippen, wurde Rainald aus der Hand gerissen, als der Körper des Wolfs von seinem eigenem Schwung weitergetragen wurde. Die Bestie fiel in den Schnee wie ein Knochensack, bereits ohne Leben, krümmte sich um die Klinge zusammen, die sie halb entzwei gehauen hatte, und lag still.
Rainald atmete ein. Er dachte das Geräusch zu hören, mit dem die Schneeflocken auf den Boden fielen. Blankas Weinen klang durch die Stille. Er musste sich anstrengen, den Blick von dem getöteten Wolf loszureißen.
Schwester Venia und die Kinder standen ein paar Dutzend Schritte entfernt. Blanka weinte mit hängendem Kopf und zuckenden Schultern. Die Klosterschwester schien zu erwachen und hob die Hand, um sie der Kleinen auf den Kopf zu legen. Rainald räusperte sich. Schwester Venia zuckte zurück.
"Er ist tot", sagte Rainald. "Ihr könnt wieder herkommen." Das Schwert löste sich ganz leicht aus dem Körper. Wenn er es nur um ein Quentchen fester gehalten hätte, wäre es ihm gar nicht aus der Hand gerissen worden. Er wischte mit der Klinge durch den Schnee. Das Blut darauf war dunkel und löste sich leicht. Die stille Form des Wolfs strömte einen muffigen Gestank aus, das Fell sah aus wie nass gewordene Lumpen. Er konnte die Rippen zählen.
Schwester Venia trat neben ihn. Rainald merkte erst jetzt, dass er die Faust die ganze Zeit über geballt hatte. Er streckte die Finger
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