Existenz
Ich, Amphorum 1
Das Universum hatte zwei große Hälften.
Eine Hemisphäre aus glitzernden Sternen erstreckte sich rechts von Gerald.
Die blaubraune Erde befand sich auf der anderen Seite. Zu Hause, nach getaner Arbeit. Wenn er den von einer anderen Generation stammenden Müll weggeräumt hatte.
Wie ein Fötus in der Gebärmutter schwebte Gerald in einer durchsichtigen Hülle am Ende eines langen Auslegers, ein ganzes Stück von der Raumstation Endurance entfernt. Von ihr getrennt war diese Hülle mehr Raum als Station.
Hier konnte sich Gerald auf Signale von einem viele Hundert Kilometer entfernten Satelliten konzentrieren. Weit über ihm hing ein langes, schmales Faserband im Nichts.
Die Bola. Sein Lasso. Sein Werkzeug bei dieser Arbeit.
Die Bola ist mein Arm.
Der Greifer ist meine Hand.
Magnetisch ist der Hebel, den ich bewege.
Und ein Planet ist der Drehpunkt.
An den meisten Tagen half ihm dieser kleine Gesang, sich auf die Arbeit zu besinnen, auf den Job eines besseren Müllmanns. Es gibt noch immer Leute, die mich beneiden. Millionen, dort unten im dünnen Film aus Meer, Wolken und Küste.
Einige von ihnen sahen jetzt nach oben, während die Nacht schneller als der Schall über Sumatra hinwegraste. In der Dämmerung konnte man die große alte Raumstation am besten sehen. Gerald fühlte sich jedes Mal mit der Menschheit verbunden, wenn die Endurance den Terminator überquerte, ob Morgen oder Abend – weil er wusste, dass einige Leute gen Himmel sahen.
Konzentrier dich, Gerald. Auf die Arbeit.
Er streckte den rechten Arm ganz nach vorn und versuchte erneut, die Spannung in dem fernen, wirbelnden Kabel anzupassen, das sich zweitausend Kilometer über ihm befand. Gerald griff so danach, als wäre es eine träge Erweiterung seines Körpers.
Und das Kabel antwortete. Feedback-Signale pulsierten durch den mit Neurosensoren ausgestatteten Anzug. Aber sie fühlten sich falsch an.
Meine Schuld, begriff Gerald. Die Befehle, die er dem schlanken Satelliten übermittelte, waren zu schnell, zu ungeduldig. In der Nähe beklagte sich Hachi mit einem Kreischen. Der zweite Insasse dieser Blase war unglücklich.
»Na schön.« Gerald schnitt eine Grimasse und sah die kleine Gestalt an, die einen eigenen neurosensorischen Anzug trug. »Krieg nicht gleich einen Knoten in deinen Schwanz. Ich bring’s in Ordnung.«
Manchmal ist ein Affe vernünftiger als ein Mensch.
Insbesondere vernünftiger als ein Mensch, der so schäbig aussieht, dachte Gerald. Ein kurzer Blick auf sein Spiegelbild zeigte ihm deutlich, wie schmutzig seine elastische Kleidung geworden war, von verschütteten Getränken und Wartungsflüssigkeiten. Die von grauem Bartflaum bedeckten Wangen waren eingefallen, und die buschigen Brauen darüber wirkten viel zu struppig.
Wenn ich so nach Houston heimkehre, lässt mich die Familie nicht mal ins Haus. Obwohl, mit dem angesammelten Fluggeld …
Komm schon, konzentrier dich!
Gerald klickte zweimal auf den unteren linken Backenzahn und dreimal auf den rechten. Sein Anzug reagierte mit einer weiteren Dosis Langsamsaft in eine Oberschenkelvene. Ruhiger Gleichmut, der klares Denken erleichtern sollte, breitete sich in ihm aus …
… und die Zeit schien zu kriechen.
Jetzt hatten die Feedback-Signale von der fernen Bola Gelegenheit, ihn rechtzeitig zu erreichen. Gerald fühlte sich mehr als Teil des dreißig Kilometer langen Seils, während es schwerfällig in einen höheren Orbit schwang. Pulsierende elektrische Ströme dort oben wurden hier unten zu einem vagen Prickeln, das von Geralds Handgelenk über Arm und Schulter zum Rücken reichte und sich bis zum linken großen Zeh fortsetzte, wo es nach Hebelkraft zu graben schien. Als er drückte, wurde der ferne Kabel-Satellit aktiv und setzte Kraft gegen das Magnetfeld des Planeten ein.
Tele-Operation. In einer Ära immer komplexerer künstlicher Intelligenz erforderten manche Aufgaben noch immer einen altmodischen menschlichen Piloten. Selbst einen, der in einer Blase schwebte, weit unter dem eigentlichen Geschehen.
Lassen wir den Strom etwas stärker werden. Zwei Einheiten runter mit unserer gegenwärtigen Drehgeschwindigkeit. Ein Kitzeln im Zeh wies auf mehrere Hundert Ampere Elektrizität hin, die von einem Ende des schwingenden Strangs ausgingen und den magnetischen Widerstand erhöhten. Das große Kabel rotierte etwas langsamer über die Sterne.
Hachi, neben ihm angeschlossen, quiekte nörglerisch in seinem eigenen Netz aus Stützfasern. Schon
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