Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)
Dielsdorfer zu Rainald und zurück. Etwas, das sie in beiden Gesichtern sah, ließ ihren Widerstand erlöschen. Sie wählte einen Schlüssel an ihrem Bund und sperrte die Tür auf. Sie schwang nach innen auf in eine dunkle Zelle.
Rainald fühlte, wie eine Hand seinen Arm ergriff. Dielsdorfer sah zu ihm auf. „Denkt daran: Gott hat sie zu euch geschickt“, sagte er.
Rainald folgte der Oberin und dem Licht der Laterne. Auf der Pritsche lag eine schmale, stille Gestalt. Rainald sah die eingefallenen Wangen, die leicht geöffneten, blauen Lippen, die Schatten um die geschlossenen Augen. Die Hände waren abgemagert und lagen gefaltet auf ihrem Schoß, gehalten von einem Rosenkranz. Er trat näher, ohne es zu bemerken. Das Licht von der Laterne goss warmes Licht über das wächserne Gesicht und täuschte Wärme und Leben vor, verwischte die Falten und machte es jünger.
„Lauf weiter und vertraue“, sagte Rainald halblaut.
„Schwester Venia“, flüsterte die Oberin und machte das Kreuzzeichen. „Der Herr erbarme sich deiner.“
Rainald sah auf Schwester Venia hinab. Es war nicht schwer, ihr Gesicht unter dem der frühzeitig gealterten Frau zu sehen, deren Leichnam auf der Pritsche lag. Sie hatte geahnt, dass sie sterben würde. Sie hatte sich zurechtgelegt, den Rosenkranz um die Hände gewickelt, die Augen geschlossen und ihre Seele dem Herrn empfohlen – ganz allein, in der dunklen Zelle am Ende des Klosters, und ohne dass es ihren Mitschwestern aufgefallen wäre. Schon zeigten sich die Knochen unter ihrem Gesicht.
„Jeder sagte, dass es nicht ihre Schuld war und dass sie den anderen nicht hätte helfen können, wenn sie nicht geflohen wäre; dass sie mit den anderen umgekommen wäre. Sie jedoch konnte sich selbst nicht verzeihen, dass der Mut sie verlassen hatte, und sie glaubte auch nicht, dass Gott oder alle anderen um sie herum ihr wirklich vergeben hätten. Sie bat um eine Einzelzelle hier in Sankt Irminen, zog die Tür hinter sich zu, und das war das Letzte, was irgendjemand von ihr gesehen hat.“ Dielsdorfer wies auf den Leichnam. „Bis heute.“
„Sie muss gestern Nacht gestorben sein; oder im Lauf des gestrigen Tags“, sagte Rainald. „Selbst wenn sie hätte fliegen können, hätte sie unmöglich bei mir und den Kindern sein und dann vor uns nach hier zurückkehren können, um …“ Er brach hilflos ab.
„Wovon spricht dieser Mann?“, fragte die Oberin misstrauisch und rückte einen Schritt von Rainald ab.
„Ja“, sagte Dielsdorfer .
Rainald beugte sich über die Leiche von Schwester Venia. Die Stimme, die vor dem Stadttor in sein Ohr geflüstert hatte, war ihre gewesen. Als er sie gehört hatte, hatte er gewusst, dass sie tot war. Er hatte angenommen, dass die Wölfe sie erwischt hatten. Tatsächlich …
„Ich habe vertraut“, flüsterte er. „Ich habe dem Leben vertraut, Schwester Venia. Diesmal hat es mich nicht im Stich gelassen.“
Bevor jemand ihn zurückhalten konnte, zupfte er an Schwester Venias Gebende, rückte es zurecht und strich mit einer Hand sanft über das kalte, blasse, faltige Gesicht.
„Es ist Euch vergeben“, sagte er. Dann ließ er den Tränen freien Lauf und schämte sich nicht dafür.
***
Ein Wolf hatte es bis zum Galgen geschafft. Dort war er liegen geblieben und verendet. Die Bauern, die am nächsten Tag um ihn herumstanden und ihn musterten, waren schweigsam. Schließlich fasste einer den Mut, an das stille Fellbündel heranzutreten und es herumzudrehen. Die Bauern murmelten und bekreuzigten sich. Der Wolf war kein Wolf, sondern ein großer, zottiger Schäferhund. Seine Augen waren halb geöffnet, seine Kiefer zusammengepresst, als habe er seinen letzten Atemzug voller Hass und Neid getan. Die Bauern bekreuzigten sich erneut.
Plötzlich flog etwas gegen den Kopf des toten Hundes und zerplatzte. Ein Schneeball. Die Erwachsenen fuhren herum. Ein kleiner Junge stand in ihrer Mitte mit einem weiteren Schneeball. Sein Grinsen erlosch, als er die Gesichter um sich herum sah. Er ließ den Schneeball fallen. Die Bauern schüttelten die Köpfe und stapften weiter.
Der Junge blieb zurück. Er starrte den toten Hund an. Mit den Resten des Schneeballs in seinem Fell wirkten seine Kiefer plötzlich nur noch halb so bedrohlich. Der Junge trat zögernd heran und stupste den Leichnam mit dem Fuß an. Plötzlich seufzte er, streckte eine Hand aus und streichelte den mächtigen Kopf, als hätte er sich daran erinnert, was er zu Hause tat, wenn der Hofhund ihn
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