Friesenherz
1
»Ich hätte gerne einen Leuchtturm«, sagte Ann. »Einen eigenen Leuchtturm, ganz für mich allein.« Dabei deutete sie mit einer unbestimmten Geste in die Ferne.
Sie hatte die Schuhe ausgezogen und an den zusammengeknoteten Schnürsenkeln über ihren Arm gehängt. Bei jedem Schritt stupsten die Gummispitzen ihrer knöchelhohen Stofftreter gegen ihren Oberschenkel. Die Schuhe sahen aus wie ein neckisches Accessoire, mit dem sie genauso gut auf der Straßencafémeile ihres Hamburger Wohnviertels hätte flanieren können. Das Wasser kringelte sich um ihre nackten Füße und leckte an ihren Knöcheln wie ein junges Kätzchen. Wie idyllisch.
Wenn nicht die ein oder andere Kleinigkeit das Bild gestört hätte.
Erstens: Außerhalb des wandernden Lichtkegels, den der Leucht turm von Süderhörn über die Wattfläche ausgoss, war es stock finster.
Zweitens: Es war November und zum Barfußgehen deutlich zu kalt. So kalt, dass unser Atem uns in kleinen Wölkchen vor den Mündern stand.
Drittens und schlimmstens: Dieses nette kleine Kätzchen würde schon ziemlich bald seine Krallen ausfahren. Um das zu wissen, brauchte ich keinen Gezeitenkalender. Leise kam die Flut daher, aber mir machte sie nichts vor. Bald würden wir hüfthoch im eisigen Wasser stehen. Die Nachbarinsel war noch dazu verdammt weit weg. Den Rückweg zum Leuchtturm von Süderhörn würden wir auch kaum noch schaffen.
Und als wäre das noch nicht genug, war ich auch noch schuld daran. Schuld daran, dass Ann gerade mitten im norddeutschen Wattenmeer ihr Leben riskierte oder, wenn man es genau nahm, sogar noch ein weiteres Leben. Schuld daran, wenn ich selbst innerhalb der nächsten zwei Stunden ertrinken und Ronja nie wieder sehen würde. Dabei war ich losmarschiert, um meine Tochter zu retten. Das war wohl gründlich schiefgegangen. Wenn hier jemand Rettung nötig hatte, dann ich, ihre Mutter. Und Ann. Die natürlich auch.
Okay, zugegeben: Vorgestern hätte ich der Vorstellung durchaus etwas abgewinnen können, wie Ann mit ihren zarten Künstlerfüßen durch die eisigen Priele stolperte, wenn schon nicht in den Tod, dann doch wenigstens ins Verderben. Was hatte ich ihr nicht alles an den Hals gewünscht: Fischvergiftung, Schiffbruch, Skorbut – in beliebiger Reihenfolge. Allerdings hatte ich bei meinen Racheplänen nicht die Möglichkeit erwogen, dass ich bei der Stolperei dabei sein könnte. Ja, dass nicht mal mein Paar wetterfeste Gummistiefel mich auf Dauer vor der Wucht des auflaufenden Wassers bewahren würde.
Der Vollständigkeit halber sollte ich vielleicht noch etwas erwähnen: Bevor Ann zu meiner Intimfeindin wurde, also etwa vor achtundvierzig Stunden, war sie noch so etwas gewesen wie meine neue beste Freundin. Heute war sie meine Leidensgenossin, und dafür hatte sie sich auch noch freiwillig entschieden. Ich hatte nicht gewusst, dass sich das Verhältnis zwischen erwachsenen Frauen der art schnell ändern konnte.
Eines war allerdings klar: Wenn Ann und ich nicht in absehbarer Zeit wieder festen Boden unter den Füßen hätten, würden wir bald für alle Zeiten zu einem Doppelpack zusammengeschnürt werden, egal, wie unser aktuelles Verhältnis war. Zwei Namen in den Nachrichten, zwei Fotos, zwei Vermisstenanzeigen. Schließlich: zwei Todesanzeigen auf der gleichen Seite im Hamburger Abendblatt .
Ein Gedanke tauchte von irgendwoher auf, ploppte in Richtung Oberfläche, blieb dort aber stecken wie ein Fisch, der gegen die Eisdecke eines zugefrorenen Sees stößt.
»Ann?«
Sie wandte mir ihr Gesicht zu. Der Wind zerrte an ihren Rastalocken.
»Ann? Schaffen wir das?« Meine Stimme klang ängstlicher als beabsichtigt.
Sie sah mich mit einem schwer zu deutenden Blick an. Beinahe mütterlich.
»Du darfst jetzt nicht in Panik geraten«, sagte sie fest.
»Ich gerate nicht in Panik!«, schrie ich.
»Weißt du, warum ich gerne einen Leuchtturm hätte?«, sagte sie, und ich war so verblüfft, dass ich beinahe meine Angst vergaß. So ähnlich hatte ich das früher mit Ronja gemacht, wenn sie sich als Kleinkind in einen Schreianfall hineingesteigert hatte: einfach das Thema wechseln. Manchmal hatte es funktioniert. Manchmal nicht.
»Okay«, sagte ich und hörte mir selbst beim Keuchen zu. »Also, warum?«
»Überblick«, sagte Ann und deutete mit großer Geste auf die Schlickwüste um uns herum, die außerhalb des Lichtkegels lag. »Stell dir vor, du hast so ein Teil im Vorgarten stehen, dreißig, vierzig Meter hoch. Und immer, wenn dir
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