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Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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wollte gern allein sein und sich dieser qualvollen Spannung ganz passiv überlassen, ohne im geringsten nach einem Ausweg aus diesem Zustand zu suchen. Er empfand einen Widerwillen dagegen, sich an die Lösung der Fragen heranzumachen, die auf seine Seele und auf sein Herz eindrangen. »Aber bin ich denn etwa an alldem schuld?« murmelte er vor sich hin, fast ohne sich seiner Worte bewußt zu werden.
    Um sechs Uhr fand er sich auf dem Bahnhof der Bahn nach Zarskojeselo. Das Alleinsein war ihm bald unerträglich geworden; ein neues Verlangen ergriff mit heißer Glut sein Herz, und das Dunkel, in dem seine Seele sich härmte, wurde für einen Augenblick von einem hellen Schein erleuchtet. Er nahm ein Billett nach Pawlowsk und wartete ungeduldig auf den Zeitpunkt der Abfahrt; aber er hatte immer das Gefühl, als verfolge ihn etwas, und dies war Wirklichkeit, nicht etwa ein Phantasiegebilde, wie er vielleicht zu denken geneigt war. Als er schon beinah im Waggon saß, warf er plötzlich das soeben gekaufte Billett auf den Boden und ging, verwirrt und in Gedanken versunken, wieder aus dem Bahnhof hinaus. Eine Weile darauf fiel ihm auf der Straße plötzlich etwas ein; es war, als ob ihm auf einmal etwas sehr Seltsames, was ihn schon lange beunruhigt hatte, klar würde. Er ertappte sich mit Bewußtsein bei einer Beschäftigung, die er schon lange fortgesetzt, aber bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte: nämlich schon seit mehreren Stunden, schon als er noch in der »Waage« war, vielleicht sogar schon, ehe er dorthin kam, hatte er von Zeit zu Zeit angefangen, gewissermaßen etwas um sich herum zu suchen. Er hatte diese Tätigkeit mitunter wieder vergessen, sogar auf längere Zeit, auf eine halbe Stunde, dann aber auf einmal von neuem sich unruhig umzusehen und ringsumher zu suchen begonnen.
    Aber kaum hatte er an sich dieses krankhafte und bisher ganz unbewußte Verlangen bemerkt, das ihn schon so lange beherrscht hatte, als plötzlich vor seinem geistigen Auge noch eine andere Erinnerung auftauchte, die ihn außerordentlich interessierte; er erinnerte sich, daß er in dem Augenblick, als er sich dieses beständigen Suchens bewußt wurde, auf dem Trottoir vor einem Schaufenster gestanden und mit großem Interesse die dort ausgelegten Waren betrachtet hatte. Jetzt nun lag ihm sehr daran, unter allen Umständen festzustellen: ob er wirklich soeben, vielleicht vor nur fünf Minuten, vor diesem Schaufenster gestanden habe und ihm das nicht etwa nur so vorgekommen sei und er irgendeine Verwechslung begangen habe. Existierten dieser Laden und diese Waren wirklich? Er hatte ja heute tatsächlich das Gefühl, daß er sich in einem besonders krankhaften Zustand befinde, fast in demselben Zustand, der sich ehemals, zu Beginn der Anfälle seiner früheren Krankheit, bei ihm einzustellen pflegte. Er wußte, daß er in der Zeit, wo sich die Anfälle vorbereiteten, außerordentlich zerstreut war und oft sogar Gegenstände und Personen verwechselte, wenn er sie ohne besondere Aufmerksamkeit ansah. Aber es war auch noch ein spezieller Grund vorhanden, weshalb ihm jetzt so sehr daran gelegen war, festzustellen, ob er damals vor einem Laden gestanden hatte; unter den im Schaufenster ausgelegten Gegenständen war einer gewesen, den er betrachtet und dabei sogar auf sechzig Kopeken taxiert hatte; daran erinnerte er sich trotz all seiner Zerstreutheit und Unruhe. Folglich, wenn dieser Laden existierte und der betreffende Gegenstand tatsächlich unter den Waren ausgestellt war, so mußte er eigens wegen dieses Gegenstandes stehengeblieben sein. Also mußte dieser Gegenstand ihn so sehr interessiert haben, daß er seine Aufmerksamkeit sogar zu einer Zeit auf sich gezogen hatte, wo er sich, nachdem er eben den Bahnhof verlassen, in so arger Verwirrung befunden hatte. Er ging, fast sehnsüchtig nach rechts blickend, zurück, und sein Herz schlug heftig vor unruhiger, ungeduldiger Erwartung. Aber da war ja dieser Laden; er hatte ihn endlich gefunden! Er war schon fünfhundert Schritte von ihm entfernt gewesen, als er den Entschluß gefaßt hatte umzukehren. Und da war auch der Gegenstand für sechzig Kopeken; »gewiß, sechzig Kopeken; mehr ist er nicht wert!« sagte er sich jetzt auf das bestimmteste und lachte auf. Aber dieses Lachen war ein hysterisches; er fühlte sich sehr bedrückt. Er erinnerte sich jetzt deutlich, daß er gerade hier, während er vor diesem Schaufenster stand, sich plötzlich umgedreht hatte, ebenso wie eine Weile

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