Der Idiot
dieses Augenblicks, lag unzweifelhaft ein Fehler; aber die Realität des Gefühles verwirrte ihn doch einigermaßen. In der Tat, was war mit dieser Realität zu machen? Sie existierte doch; er selbst hatte doch in eben jener Sekunde noch Zeit gefunden, zu sich zu sagen, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glücks willen, das er voll und ganz empfinde, vielleicht das ganze Leben wert sein könne.
»In diesem Augenblick«, so hatte er zu Rogoschin in Moskau zur Zeit ihrer häufigen Zusammenkünfte einmal gesagt, »in diesem Augenblick wird mir jener auffallende Ausspruch verständlich, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein soll‹. 1 Wahrscheinlich«, hatte er lächelnd hinzugefügt, »ist das dieselbe Sekunde, in der der umgestoßene Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht Zeit fand auszufließen, während Mohammed in derselben Sekunde alle Wohnungen Allahs beschaute.« Ja, er war in Moskau häufig mit Rogoschin zusammengekommen und hatte mit ihm noch über viele andere Gegenstände gesprochen. »Rogoschin hat vorhin gesagt, ich hätte damals an ihm wie ein Bruder gehandelt; das hat er heute zum erstenmal gesagt«, dachte der Fürst bei sich.
Er hing diesen Gedanken nach, während er im Sommergarten unter einem Baum auf einer Bank saß. Es war ungefähr sieben Uhr. Der Garten war leer; ein dunkles Gewölbe umhüllte für einen Augenblick die untergehende Sonne. Es war schwül, als ob ein Gewitter in noch ferner Aussicht stände. In seinem jetzigen kontemplativen Zustand lag für ihn etwas Verlockendes. Er klammerte sich mit seinen Erinnerungen und mit seiner Denktätigkeit an jeden äußeren Gegenstand und tat dies gern und eifrig, da er immer etwas Wirkliches, Gegenwärtiges vergessen wollte; aber bei dem ersten Blick, den er um sich tat, erkannte er sofort seinen traurigen Gedanken wieder, den Gedanken, von dem er so sehr wünschte sich loszumachen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, daß er vorhin in dem Restaurant des Gasthauses beim Mittagessen mit dem Kellner über einen kürzlich geschehenen, sehr eigenartigen Mord gesprochen hatte, der viel Aufsehen erregte und zu vielen Gesprächen Anlaß gab. Aber kaum hatte er diese Erinnerung in sich wachgerufen, als ihm auf einmal wieder etwas ganz Besonderes begegnete.
Ein außerordentliches, unbezwingliches Verlangen schlug, wie eine dämonische Versuchung, auf einmal seine ganze Willenskraft in Bande. Er stand von der Bank auf und ging aus dem Garten geradewegs in der Richtung nach der Peterburgskaja zu. Er hatte vorhin auf dem Newa-Kai einen Passanten gebeten, ihm den Weg über die Newa nach der Peterburgskaja zu zeigen; das hatte dieser auch getan; aber der Fürst war dann nicht dorthin gegangen. Und jedenfalls war es heute zwecklos, hinzugehen; das wußte er. Die Adresse hatte er allerdings schon lange und konnte somit das Haus der Schwägerin Lebedjews leicht finden; aber er wußte beinah sicher, daß er sie nicht zu Hause treffen würde. »Sie ist jedenfalls nach Pawlowsk gefahren; sonst hätte Kolja der Abrede gemäß etwas in der ›Waage‹ hinterlassen.« Wenn er also jetzt hinging, so tat er das sicherlich nicht, um sie zu sehen. Eine andere, trübe, qualvolle Wißbegierde lockte ihn dorthin. Ein neuer, plötzlicher Gedanke war ihm gekommen ...
Aber es genügte ihm vollkommen, daß er ging und wußte, wohin er ging: einen Augenblick nach dem Entschluß war er bereits in Bewegung, fast ohne auf seinen Weg zu achten. Seinen »plötzlichen Gedanken« länger zu überlegen, wurde ihm sofort furchtbar widerwärtig und beinah unmöglich. Mit qualvoll angestrengter Aufmerksamkeit betrachtete er alles, was ihm vor die Augen kam, den Himmel, die Newa. Er fing ein Gespräch mit einem ihm begegnenden kleinen Kind an. Vielleicht steigerte sich auch sein epileptischer Zustand immer mehr und mehr. Das Gewitter schien wirklich heraufzuziehen, wiewohl nur langsam. In der Ferne begann es schon zu donnern. Es wurde sehr schwül ...
Wie einem manchmal eine Melodie nicht aus dem Kopf geht, obwohl sie einem zum Ekel geworden ist, so mußte er jetzt aus nicht recht verständlichem Grund fortwährend an Lebedjews Neffen denken, den er vor einigen Stunden kennengelernt hatte. Seltsam war, daß dieser ihm immer in der Gestalt jenes Mörders ins Gedächtnis kam, dessen damals Lebedjew selbst Erwähnung getan hatte, als er ihm seinen Neffen vorstellte. Ja, von diesem Mörder hatte er noch vor ganz kurzer Zeit in der Zeitung gelesen. Über derartige Dinge hatte er seit
Weitere Kostenlose Bücher