Der Idiot
Anfall war auch die Ursache dieser ganzen seelischen Dunkelheit und dieses »Gedankens«! Jetzt war die Dunkelheit zerstreut, der Dämon vertrieben; es gab keine Zweifel mehr; in seinem Herzen herrschte eitel Freude! Und ... er hatte »sie« so lange nicht gesehen; es war ihm Bedürfnis, sie wiederzusehen; und ... ja, jetzt würde er wünschen, Rogoschin zu treffen; er würde ihn bei der Hand nehmen, und sie würden zusammen hingehen ... Sein Herz war rein; war er denn etwa Rogoschins Nebenbuhler? Morgen wird er selbst zu Rogoschin gehen und ihm sagen, daß er sie gesehen hat. Er ist ja, wie Rogoschin vorhin gesagt hat, nur um sie zu sehen, hierher geeilt! Möglicherweise trifft er sie zu Hause; es ist ja doch nicht sicher, daß sie sich in Pawlowsk befindet!
Ja, das alles mußte jetzt klargestellt werden, damit ein jeder deutlich in dem Herzen des andern lesen konnte und es keine düsteren, leidenschaftlichen Verzichte mehr gab, wie vor einer Weile Rogoschins Verzicht; nein, alles mußte sich frei und und im Hellen vollziehen. War denn Rogoschin nicht fähig, ein Leben im Hellen zu führen? Er sagte, er liebe sie in anderer Weise; er habe mit ihr keinerlei derartiges Mitleid. Allerdings fügte er dann noch hinzu: »Dein Mitleid ist vielleicht noch größer als meine Liebe«; aber damit verleumdet er sich selbst. Hm ...! Rogoschin bei einem Buch ..., ist das nicht schon »Mitleid«, nicht ein Anfang von »Mitleid«? Beweist nicht schon das Vorhandensein dieses Buches in seinem Besitz, daß er sich seines Verhältnisses zu ihr voll bewußt ist? Und seine Erzählung von vorhin? Nein, das ist ein tieferes Gefühl als eine bloße Leidenschaft. Und flößt denn ihr Gesicht nur Leidenschaft ein? Und kann dieses Gesicht jetzt überhaupt Leidenschaft einflößen? Es erweckt Schmerz; es ergreift die ganze Seele; es ... Eine brennende, qualvolle Erinnerung zog dem Fürsten plötzlich das Herz zusammen.
Ja, eine qualvolle Erinnerung! Er erinnerte sich daran, welche Qual es kürzlich für ihn gewesen war, als er zum erstenmal an ihr Anzeichen einer geistigen Störung wahrgenommen hatte. Er war damals beinah in Verzweiflung geraten. Und wie hatte er sie nur allein weglassen können, als sie damals von ihm zu Rogoschin geflüchtet war! Er hätte ihr selbst nacheilen müssen, statt nur auf Nachrichten zu warten. Aber ... hat denn Rogoschin an ihr bisher noch nichts von geistiger Störung bemerkt? Hm ...! Rogoschin sieht in allem andere Ursachen, vermutet als Ursachen immer Leidenschaften! Und was für eine sinnlose Eifersucht! Was wollte er vorhin mit seiner Annahme sagen?
(Der Fürst errötete plötzlich, und sein Herz zuckte zusammen.)
Aber welchen Zweck hatte es, sich an all dies zu erinnern? Sie waren beide so gut wie irrsinnig, er und Rogoschin. Aber für ihn, den Fürsten, wäre es beinah ein Ding der Unmöglichkeit, diese Frau leidenschaftlich zu lieben; es wäre beinah eine Grausamkeit, eine Unmenschlichkeit. Ja, ja! Nein, Rogoschin verleumdet sich selbst; er hat ein großes Herz, das leiden und Mitleid empfinden kann. Wenn er die ganze Wahrheit erkennt und sich überzeugt, was für ein bemitleidenswertes Geschöpf diese schwer geschädigte, halbirre Frau ist, wird er ihr dann nicht alles Vergangene, alle seine Qualen verzeihen? Wird er nicht ihr Diener, ihr Bruder, ihr Freund, ihre Vorsehung werden? Das Mitleid wird ihn zur Einsicht bringen, ihn belehren. Das Mitleid ist das wichtigste und vielleicht das einzige Gesetz für die Existenz der ganzen Menschheit. Oh, in welcher unverzeihlichen, ehrlosen Weise hat er sich Rogoschin gegenüber schuldig gemacht! Nein, nicht die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, sondern in seiner eigenen Seele muß ein dunkles Rätsel sein, wenn er sich etwas so Schreckliches vorstellen kann. Wegen einiger warmen, herzlichen Worte in Moskau nennt ihn Rogoschin schon seinen Bruder, und er ... Aber das war alles Krankheit und Fieber! Das wird sich alles lösen ...! Wie finster hat Rogoschin vorhin gesagt, daß er seinen Glauben verliere! Dieser Mensch leidet gewiß furchtbar. Er sagt, er betrachte dieses Bild gern; aber gern tut er es wohl nicht, sondern er empfindet ein Bedürfnis danach. Rogoschin ist nicht nur eine leidenschaftliche Natur; er ist auch ein Kämpfer: er will seinen verlorenen Glauben mit Gewalt wiedergewinnen. Er bedarf dieses Glaubens jetzt dringend und vermißt ihn qualvoll ... Ja, nur an etwas glauben! Nur an jemand glauben! Aber wie seltsam doch dieses Holbeinsche
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