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Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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in der Folgezeit diese Begegnung mit ihr vergessen und erinnerte sich ihrer immer mit gleichem Schmerz. Sie kniete mitten auf dem Weg wie eine Wahnsinnige vor ihm nieder; erschrocken trat er zurück; aber sie erhaschte seine Hand, um sie zu küssen, und ganz ebenso wie am Morgen im Traum glänzten jetzt Tränen an ihren langen Wimpern.
    »Steh auf, steh auf!« flüsterte er erschrocken und versuchte, sie aufzuheben. »Steh schnell auf!«
    »Bist du glücklich? Bist du glücklich?« fragte sie. »Sag mir nur ein Wort: bist du jetzt glücklich? Heute, in diesem Augenblick? Bist du bei ihr gewesen? Was hat sie gesagt?«
    Sie stand nicht auf und hörte nicht auf ihn; sie stellte ihre Fragen hastig und redete schnell, wie wenn Verfolger hinter ihr her wären.
    »Ich verreise morgen, wie du befohlen hast. Ich werde nicht ... Ich sehe dich zum letztenmal, zum letztenmal! Jetzt zum allerletztenmal!«
    »Beruhige dich doch, steh auf!« sagte er in heller Verzweiflung.
    Sie faßte seine beiden Hände und sog sich mit den Augen an seinem Gesicht fest.
    »Lebe wohl!« sagte sie endlich, stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten, fast laufend, von ihm. Der Fürst sah, daß auf einmal Rogoschin neben ihr erschien, ihr seinen Arm gab und sie wegführte.
    »Warte ein bißchen, Fürst!« rief Rogoschin. »Ich komme in fünf Minuten noch für einen Augenblick zurück.«
    In fünf Minuten kam er wirklich; der Fürst hatte ihn auf demselben Fleck erwartet.
    »Ich habe ihr in den Wagen geholfen«, sagte er. »Er hat seit zehn Uhr dort an der Ecke gewartet. Sie schien ordentlich vorauszuwissen, daß du den ganzen Abend bei diesem jungen Mädchen zubringen würdest. Was du mir neulich geschrieben hast, habe ich ihr ganz genau mitgeteilt. Sie wird an das junge Mädchen nicht mehr schreiben; sie hat es versprochen; auch wird sie deinem Wunsch gemäß morgen von hier wegreisen. Sie wollte dich noch zum letztenmal sehen, obwohl du es ihr abgeschlagen hattest. Da haben wir hier an dieser Stelle auf deine Rückkehr gewartet; dort auf der Bank haben wir gesessen.«
    »Hat sie selbst gewünscht, daß du mitkommen möchtest?«
    »Jawohl, jawohl!« erwiderte Rogoschin, den Mund zum Lächeln verziehend. »Ich habe nur gesehen, was ich vorher wußte. Die Briefe hast du doch wohl gelesen?«
    »Hast du sie denn wirklich gelesen?« fragte der Fürst, von diesem Gedanken überrascht.
    »Und ob! Sie hat mir jeden Brief selbst gezeigt. Erinnerst du dich an die Stelle mit dem Rasiermesser? Hehe!«
    »Sie ist wahnsinnig!« rief der Fürst händeringend.
    »Wer weiß; vielleicht auch nicht!« sagte Rogoschin leise, wie wenn er nur mit sich selbst spräche.
    Der Fürst antwortete nicht.
    »Nun leb wohl!« sagte Rogoschin. »Ich verreise ja morgen ebenfalls; gedenke meiner nicht im Bösen! Aber warum, Bruder«, fügte er, sich schnell noch einmal umwendend, hinzu, »warum hast du ihr auf ihre Frage, ob du glücklich seist oder nicht, keine Antwort gegeben?«
    »Nein, ich bin es nicht, nein, nein!« rief der Fürst in grenzenlosem Schmerz.
    »Das hätte auch noch gefehlt, daß du ja sagtest!« versetzte Rogoschin mit boshaftem Lachen und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen.
     
Fußnoten
     
    1 Ein von N.J. Schdanow erfundenes Mittel gegen üblen Geruch. (A.d.Ü.)
     
     

Vierter Teil
     
I
    Es war ungefähr eine Woche seit dem Tag vergangen, an welchem die beiden Personen, von denen unsere Erzählung handelt, das Rendezvous auf der grünen Bank gehabt hatten. An einem heiteren Vormittag gegen halb elf Uhr kehrte Warwara Ardalionowna Ptizyna, die ausgegangen war, um eine ihrer Bekannten zu besuchen, in sehr nachdenklicher, trüber Stimmung nach Hause zurück.
    Es gibt Leute, von denen man schwer etwas derartiges sagen kann, daß sie dadurch mit einemmal und vollständig uns in ihrer charakteristischen Erscheinung vor Augen gestellt würden; das sind diejenigen, die man meist als »Leute gewöhnlicher Art«, als »die Masse« bezeichnet, und die tatsächlich in allen Gesellschaftskreisen die weit überwiegende Majorität bilden. Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und eigenartig und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Podkolesin 1 in seiner charakteristischen Gestalt ist vielleicht eine Übertreibung, aber

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