Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
Vom Netzwerk:
und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen, wie alle Menschen, in zwei Hauptklassen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen gibt es zum Beispiel nichts Leichteres als sich einzubilden, er sei ein ungewöhnlicher, origineller Mensch, und davon ohne Bedenken das Gefühl eines hohen Genusses zu haben. Einige unserer jungen Damen brauchen sich nur die Haare abzuschneiden, blaue Brillen aufzusetzen und sich Nihilistinnen zu nennen, um sofort davon überzeugt zu sein, daß sie durch das Aufsetzen der blauen Brillen ohne weiteres eigene »Überzeugungen« gewonnen haben. Mancher braucht nur die geringste Spur eines allgemein menschlichen guten Gefühls in seinem Herzen zu entdecken, um sofort überzeugt zu sein, daß niemand so empfindet wie er, und daß er ein Vorkämpfer in der allgemeinen Entwicklung ist. Mancher braucht nur einen Gedanken von einem andern auf Treu und Glauben anzunehmen oder eine Druckseite ohne Anfang und Schluß durchzulesen, um sofort zu glauben, daß das seine eigenen, in seinem eigenen Gehirn entstandenen Gedanken seien. Die naive Dreistigkeit, wenn man sich so ausdrücken kann, geht in solchen Fällen erstaunlich weit; all das ist fast unglaublich und begegnet einem doch auf Schritt und Tritt. Diese naive Dreistigkeit, diesen festen Glauben des Dummen an sich und sein Talent schildert uns Gogol vorzüglich in der wundervollen Figur des Leutnants Pirogow 2 . Pirogow zweifelt gar nicht daran, daß er ein Genie ist, ja höher steht als jedes Genie; er ist von einem Zweifel daran so weit entfernt, daß er sich gar keine diesbezügliche Frage vorlegt, wie denn Zweifelsfragen für ihn überhaupt nicht existieren. Der große Schriftsteller sah sich schließlich genötigt, ihn zur Genugtuung für das verletzte moralische Gefühl des Lesers durchprügeln zu lassen; als er aber sah, daß der große Mann sich nur schüttelte und zur Hebung seiner Kräfte nach der Mißhandlung einen Blätterkuchen verzehrte, da breitete er erstaunt die Arme auseinander und verließ seine Leser in dieser Situation. Ich habe es immer bedauert, daß Gogol den großen Pirogow auf eine so niedrige Rangstufe gestellt hat; denn Pirogow ist so selbstzufrieden, daß für ihn nichts leichter wäre als sich auf Grund der mit den Jahren und den Avancements dicker gewordenen Epauletten einzubilden, daß er ein ausgezeichneter Feldherr sei, und es sich nicht bloß einzubilden, sondern überhaupt nicht daran zu zweifeln; denn er würde sich sagen, man habe ihn zum General ernannt, wie solle er da kein Feldherr sein! Und wie viele solcher Leute erleiden dann auf dem Schlachtfeld ein schreckliches Fiasko! Und wie viele Pirogows hat es unter unseren Literaten, Gelehrten und Aufklärungsaposteln gegeben! Ich sage »hat es gegeben«; aber natürlich gibt es ihrer auch jetzt ...
    Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zur andern Klasse; er gehörte zur Klasse der »weit klügeren« Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Klasse ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, daß ein
kluger
Alltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben lang) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, infolge wovon der kluge Mensch schließlich manchmal völlig in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die ins Innere hineingetriebene Eitelkeit schon vollständig vergiftet. Übrigens haben wir in jedem Fall die Extreme angeführt; aber bei den allermeisten Mitgliedern dieser klugen Menschenklasse verläuft die Sache keineswegs so tragisch; gegen Ende das Lebens hat sich vielleicht ein Leberleiden mehr oder minder stark entwickelt, das ist alles. Aber doch vollführen diese Leute, bevor sie sich beruhigen und fügen, manchmal eine sehr lange Zeit hindurch, von der Jugend bis zu dem Lebensalter der Fügsamkeit, recht tolle Streiche, und immer in der Sucht nach Originalität. Es kommen sogar seltsame Fälle vor: mancher ehrliche Mensch ist aus Originalitätssucht sogar dazu bereit, sich zu einer gemeinen Handlung zu verstehen. Auch folgendes kommt vor: mancher dieser unglücklichen, nicht nur

Weitere Kostenlose Bücher