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Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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recht?«
    »Fand denn die Hinrichtung in Ihrem Dorf statt?« fragte Adelaida.
    »Ich habe ihr in Lyon beigewohnt; ich war mit Schneider dorthin gefahren. Gleich nachdem wir angekommen waren, stießen wir auf diese Szene.«
    »Nun, hat es Ihnen gefallen? War viel Erbauliches und Nützliches dabei?« fragte Aglaja.
    »Es hat mir ganz und gar nicht gefallen, und ich war danach sogar etwas krank; aber ich gestehe, daß ich wie angeschmiedet dastand und hinsah und die Augen nicht davon abwenden konnte.«
    »Ich hätte auch nicht wegsehen können«, sagte Aglaja.
    »Es wird dort nicht gern gesehen, wenn sich Frauen dabei zum Zuschauen einfinden, und es stehen über solche Frauen sogar mißbilligende Bemerkungen in den Zeitungen.«
    »Also wenn man findet, daß sich das nicht für Frauen schickt, so will man damit sagen, rechtfertigend sagen, daß es für Männer schicklich ist. Eine köstliche Logik! Und Sie denken gewiß ebenso.«
    »Erzählen Sie uns doch etwas von der Hinrichtung!« unterbrach Adelaida sie.
    »Ich möchte es jetzt nicht gern tun«, erwiderte der Fürst in sichtlicher Verlegenheit und mit düsterer Miene.
    »Sie wollen es wohl aus Schonung für uns unterlassen?« fragte Aglaja spöttisch.
    »Das nicht; aber ich möchte es nicht, weil ich von dieser Hinrichtung schon vorhin erzählt habe.«
    »Wem haben Sie denn davon erzählt?«
    »Ihrem Kammerdiener, während ich wartete.«
    »Welchem Kammerdiener?« erscholl es von allen Seiten. »Nun, dem, der da im Vorzimmer sitzt, mit dem grauen Haar und dem rötlichen Gesicht; ich habe im Vorzimmer gesessen, bis ich zu Iwan Fjodorowitsch hineingehen durfte.«
    »Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin.
    »Der Fürst ist ein Demokrat«, erklärte Aglaja kurz.
    »Nun, wenn Sie es Alexei erzählt haben, können Sie es uns auch nicht abschlagen.«
    »Ich will es unter allen Umständen hören«, wiederholte Adelaida ihr Verlangen.
    »Als Sie mich vorhin nach einem Gegenstand für ein Gemälde fragten«, wandte sich der Fürst zu ihr (er hatte sehr schnell und zutraulich wieder Mut gefaßt), »da kam mir wirklich der Gedanke, Ihnen einen solchen an die Hand zu geben: das Gesicht eines Verurteilten zu zeichnen, eine Minute vor dem Niederfallen des Beiles der Guillotine, wenn er noch auf dem Schafott steht, also bevor er sich auf das Brett legt.«
    »Das Gesicht? Nur das Gesicht?« fragte Adelaida. »Das wird ein sonderbarer Gegenstand sein; was wird denn dabei für ein Bild herauskommen?«
    »Ich wüßte nicht, warum man das nicht zeichnen sollte«, versetzte der Fürst beharrlich und eifrig. »Ich habe unlängst in Basel ein solches Bild gesehen. Ich würde es Ihnen sehr gern beschreiben ... Ich werde es auch ein andermal tun ... Es hat mir einen starken Eindruck gemacht.«
    »Das Baseler Bild müssen Sie mir jedenfalls später einmal beschreiben«, sagte Adelaida. »Jetzt aber verdeutlichen Sie mir, bitte, das Bild von der Hinrichtung! Können Sie es so schildern, wie Sie es sich vorstellen? Wie soll man dieses Gesicht zeichnen? Das Gesicht allein? Wie sieht denn dieses Gesicht aus?«
    »Es war genau eine Minute vor dem Tod«, begann der Fürst sehr bereitwillig (er schien von seinen Erinnerungen ganz hingerissen zu sein und sogleich alles übrige zu vergessen), »in dem Augenblick, wo er die Stufen hinaufgestiegen war und soeben das Schafott betreten hatte. Da blickte er nach der Seite hin, wo ich stand; ich sah ihm ins Gesicht und verstand alles ... Freilich, wie kann ich das mit Worten wiedergeben? Ich würde innig wünschen, daß Sie oder sonst jemand das zeichneten! Das beste wäre, wenn Sie es täten! Ich dachte gleich damals: ein solches Bild wird nützlich sein. Wissen Sie, man müßte darin alles zur Darstellung bringen, was vorhergegangen war, alles, alles. Er hatte, wie ich hörte, im Gefängnis gesessen und seine Hinrichtung frühestens in einer Woche erwartet; er rechnete auf die gewöhnlichen Formalitäten, darauf, daß das Todesurteil noch irgendwohin geschickt werden müsse und erst nach Ablauf einer Woche wieder zurückkommen werde. Aber diesmal nahm durch irgendeinen Zufall die Sache einen kürzeren Lauf. Um fünf Uhr morgens schlief er noch. Es war Ende Oktober; um fünf Uhr ist es da noch kalt und dunkel. Der Gefängnisaufseher trat, von einer Schildwache begleitet, leise herein und berührte sacht seine Schulter; er richtete sich halb auf, stützte sich auf den Ellbogen und sah das Licht: ›Was gibt's?‹ – ›Um zehn Uhr ist die

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