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Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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rief Adelaida lachend.
    »Ich vermag Sie nichts zu lehren«, versetzte der Fürst, gleichfalls lachend. »Ich habe fast die ganze Zeit meines Aufenthalts im Ausland in diesem Schweizer Dorf verlebt; nur selten machte ich einen kleinen Ausflug; was kann ich Sie da lehren? Anfangs beschränkte sich die Besserung darauf, daß das Gefühl öden Mißmuts aufhörte; aber bald fing ich an zu genesen; dann wurde mir jeder Tag lieber und teurer, so daß sich mir diese Beobachtung aufdrängte. Ich legte mich immer sehr zufrieden schlafen und fühlte mich noch glücklicher beim Aufstehen. Aber woher das kam, das ist allerdings recht schwer zu erklären.«
    »Sie waren also so zufrieden, daß Sie sich nirgend anderswohin wünschten, sich nirgend anderswohin gezogen fühlten?« fragte Alexandra.
    »Zuerst, ganz am Anfang, sehnte ich mich weg, ja, und ich verfiel in große Unruhe. Ich dachte immer darüber nach, wie ich mir mein Leben einrichten könnte, und suchte mein künftiges Schicksal zu erkennen. Besonders zu gewissen Zeiten war ich sehr unruhig. Sie wissen, es gibt solche Augenblicke, namentlich wenn man ganz allein ist. Wir hatten dort einen kleinen Wasserfall; er fiel hoch vom Berg herab wie ein dünner Faden, fast senkrecht, weiß, geräuschvoll und schäumend; er fiel hoch herunter und schien doch ziemlich niedrig zu sein; er war eine halbe Werst entfernt, und es kam einem vor, als ob bis zu ihm hin nur fünfzig Schritte wären. Ich horchte bei Nacht gern auf sein Geräusch; das waren die Zeiten, wo ich manchmal in sehr große Unruhe geriet. Ebenso ging es mir manchmal um die Mittagszeit; ich stieg wohl allein irgendwohin in die Berge und stand dann allein inmitten derselben da, ringsum alte, große, harzige Tannen; oben auf einem Felsen die Ruinen einer alten mittelalterlichen Burg; unser Dörfchen unten in der Ferne, kaum sichtbar; die Sonne brannte, der Himmel war tiefblau, es herrschte eine furchtbare Stille. In solchen Augenblicken zog es mich mitunter weg, und ich hatte immer die Vorstellung, wenn ich nur immer geradeaus gehen könnte, immer weiter und weiter, und die Linie überschreiten könnte, wo Himmel und Erde einander berühren, da würde sich jedes Rätsel lösen, und ich würde sofort ein neues Leben erblicken, ein Leben, das tausendmal frischer und lärmender wäre als das bei uns; ich malte mir so eine große Stadt aus wie Neapel und darin lauter Paläste und Lärm und Getöse und Leben ... Ja, in was für Phantasien erging ich mich da! Aber dann schien es mir ein andermal, daß man auch im Gefängnis ein inhaltlich reiches Leben führen könne.«
    »Diesen letzten löblichen Gedanken habe ich schon, als ich zwölf Jahre alt war, in meinem Lesebuch gelesen«, bemerkte Aglaja.
    »Das ist lauter Philosophie«, fügte Adelaida hinzu. »Sie sind ein Philosoph und sind hergekommen, um uns zu unterweisen.«
    »Da haben Sie vielleicht recht«, erwiderte der Fürst lächelnd. »Vielleicht bin ich tatsächlich ein Philosoph, und wer weiß, vielleicht habe ich wirklich die Absicht, andere zu belehren. Sehr wohl möglich, ja, ja, sehr wohl möglich.«
    »Ihre Philosophie ist ganz von demselben Schlag wie Ewlampia Nikolajewnas Philosophie«, erwiderte wieder Aglaja. »Das ist eine Beamtenwitwe, die als arme Klientin manchmal zu uns kommt. Bei der dreht sich alles im Leben um die Wohlfeilheit; so billig wie nur möglich zu leben, das ist ihr Ideal, und sie redet auch von nichts anderem als von Kopeken; aber wohl zu beachten: sie hat Geld, das schlaue Frauenzimmer. Gerade so ist es auch mit Ihrem inhaltlich reichen Leben im Gefängnis und vielleicht auch mit Ihrer vierjährigen glücklichen Existenz im Dorf, für die Sie Ihr Neapel verkauft haben, und zwar, wie es scheint, mit Profit, wenn Sie dafür auch nur ein paar Kopeken bekommen haben.«
    »Was das Leben im Gefängnis anlangt«, erwiderte der Fürst, »so kann man doch anderer Ansicht sein als Sie. Ich habe darüber einen Menschen erzählen hören, der zwölf Jahre im Gefängnis gesessen hatte; er war einer der Patienten meines Professors und machte eine Kur. Er hatte heftige Anfälle, war manchmal sehr unruhig, weinte viel und versuchte sogar einmal, sich das Leben zu nehmen. Sein Leben im Gefängnis war ein sehr trauriges gewesen, kann ich Ihnen versichern, aber keineswegs so ein Kopekenleben. Und dabei bestand seine ganze Bekanntschaft aus einer Spinne und aus einem Bäumchen, das unter seinem Fenster wuchs ... Aber ich will Ihnen lieber von einer Begegnung

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