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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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sehr hatte ihm heute früh auf den ersten Blick dieser Gasthof mißfallen, diese Korridore, dieses ganze Haus, sein eigenes Zimmer; mehrmals im Laufe des Tages hatte er sich mit besonderem Widerwillen daran erinnert, daß er wieder dahin zurückkehren müsse... ›Aber was ist denn nur mit mir? Ich glaube ja heute wie ein krankes Weib an jede Ahnung!‹ dachte er nervös und spöttisch, während er im Tor stehenblieb. Ein neuer, unerträglicher Anfall von Schamgefühl, ja fast von Verzweiflung hielt ihn auf seinem Platz direkt am Eingang in den Torweg festgebannt. Er blieb einen Augenblick stehen. Das ist eine nicht seltene Erscheinung: unerträgliche, plötzliche Erinnerungen, besonders wenn sie mit dem Gefühl der Scham verknüpft sind, zwingen die Menschen, einen Augenblick auf demselben Fleck stehenzubleiben. ›Ja, ich bin ein herzloser Mensch und ein Feigling!‹ sagte er sich mit düsterer Miene und setzte sich mit einem Ruck wieder in Bewegung, um weiterzugehen, aber... er blieb von neuem stehen.
    In dem ohnehin sehr dunklen Torweg war es jetzt ganz finster; die herauf gezogene Gewitterwolke hatte die Abendhelle verschlungen, und gerade zu der Zeit, da der Fürst sich dem Hause näherte, öffnete sich die Wolke auf einmal und schüttete ihren Regen herab. In dem Augenblick, als der Fürst sich nach kurzem Stehenbleiben ruckartig wieder in Bewegung setzte, befand er sich am Anfang des Torwegs, da, wo man von der Straße aus in den Torweg eintrat. Und plötzlich erblickte er in der Tiefe des Durchgangs im Halbdunkel, dort, wo es die Treppe hinaufging, einen Mann. Dieser Mann schien auf etwas zu warten, huschte aber schnell davon und war verschwunden. Diesen Menschen hatte der Fürst nicht deutlich sehen können und hätte nicht mit Sicherheit sagen können, wer es gewesen war. Zudem kamen hier so viele Menschen vorbei; es war eben ein Gasthaus, und auf den Korridoren war ein ewiges Kommen und Gehen. Aber er fühlte auf einmal die volle und unwiderlegliche Überzeugung, daß er diesen Menschen erkannt hatte und daß dieser Mensch bestimmt Rogoshin war. Einen Augenblick darauf eilte der Fürst ihm nach, die Treppe hinauf. Das Herz stand ihm still. ›Jetzt wird sich sogleich alles entscheiden!‹ sagte er bei sich selbst mit seltsamer Sicherheit.
    Die Treppe, die der Fürst vom Torweg aus hinauflief, führte zu den Korridoren des ersten und zweiten Stockwerks, an denen die Zimmer der Hotelgäste lagen. Diese Treppe war, wie in allen alten Häusern, von Stein, dunkel, eng, und wand sich um eine dicke, steinerne Säule herum. Auf dem ersten Absatz befand sich in der Säule eine nischenartige Vertiefung, nicht mehr als einen Schritt breit und einen halben Schritt tief. Ein Mensch konnte jedoch darin Platz finden. Wie dunkel es auch war, so unterschied der Fürst doch sogleich, als er den Absatz erreichte, daß sich in dieser Nische ein Mensch versteckt hatte. In dem Fürsten wurde plötzlich der Wunsch wach, vorbeizugehen und nicht nach rechts zu blicken. Er tat noch einen Schritt, konnte sich aber doch nicht beherrschen und wandte sich um.
    Die zwei Augen von vorhin, dieselben Augen, begegneten auf einmal seinem Blick. Der Mensch, der in der Nische verborgen gewesen war, war inzwischen ebenfalls einen Schritt aus ihr herausgetreten. Eine Sekunde lang standen die beiden einander ganz dicht gegenüber. Plötzlich faßte der Fürst den andern an den Schultern und drehte ihn um, nach der Treppe zu, mehr nach dem Licht hin: er wollte sein Gesicht deutlicher sehen.
    Rogoshins Augen funkelten auf, und ein wahnsinniges Lächeln entstellte sein Gesicht. Seine rechte Hand fuhr in die Höhe, und es blitzte etwas in ihr; dem Fürsten kam es nicht in den Sinn, sie aufzuhalten. Er erinnerte sich später nur, daß er gerufen hatte:
    »Parfen, ich kann es nicht glauben!...«
    Dann war es, als ob sich auf einmal etwas vor ihm öffnete: ein ungewöhnliches inneres Licht erhellte seine Seele. Dies dauerte vielleicht eine halbe Sekunde; aber er erinnerte sich doch deutlich und bewußt an den Anfang, an den ersten Laut eines furchtbaren Schreies, der sich von selbst seiner Brust entrang und den er mit keiner Anstrengung hätte zurückhalten können. Dann erlosch sein Bewußtsein, und es trat völlige Finsternis ein.
    Er hatte einen epileptischen Anfall bekommen, nachdem diese Krankheit ihn schon so lange Zeit nicht mehr heimgesucht hatte. Bekanntlich treten die epileptischen Anfälle, namentlich die eigentliche Fallsucht, ganz

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