Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
kam einem lauten Schreien gefährlich nahe, was im Haus ebenfalls verboten war. »Das sind meine drei allerbesten Freunde!«
»Ach, du findest neue Freunde«, sagte Mutter und winkte verständnislos ab, als wäre es ein Kinderspiel, drei beste Freunde zu finden.
»Aber wir hatten Pläne«, protestierte er.
»Pläne?«, fragte Mutter und hob eine Augenbraue. »Was für Pläne denn?«
»Na ja, das wäre Petzen«, erwiderte Bruno. Er durfte nichts Genaueres über die Pläne preisgeben, bei denen es auch darum ging, viel Unruhe zu stiften, besonders in ein paar Wochen, wenn die Sommerferien anfingen und sie ihre Zeit nicht immer nur mit Pläneschmieden verbringen mussten, sondern sie endlich auch in die Tat umsetzen konnten.
»Tut mir leid, Bruno«, sagte Mutter, »aber deine Pläne werden wohl oder übel warten müssen. Bei dieser Sache haben wir keine Wahl.«
»Aber Mutter!«
»Bruno, Schluss jetzt«, fauchte sie ihn an und stand auf, um ihm zu zeigen, wie ernst es ihr war. »Erst letzte Woche hast du dich darüber beschwert, dass sich hier in letzter Zeit alles verändert hat.«
»Mir gefällt eben nicht, wenn wir nachts sämtliche Lichter ausschalten müssen«, gab er zu.
»Das müssen alle machen«, sagte Mutter. »Es dient unserer Sicherheit. Und wer weiß, vielleicht ist die Gefahr nicht so groß, wenn wir wegziehen. Aber jetzt geh nach oben und hilf Maria beim Packen. Dank einem gewissen Jemand bleibt uns nämlich weniger Zeit, alles vorzubereiten, als mir lieb gewesen wäre.«
Bruno nickte und ging traurig davon; er wusste, dass ein gewisser Jemand ein Ausdruck der Erwachsenen für Vater war, ein Ausdruck, den er selbst nicht benutzen durfte.
Langsam stieg er die Treppe hoch, hielt sich dabei mit einer Hand am Geländer fest und überlegte, ob es in dem neuen Haus in der neuen Stadt, wo die neue Arbeit war, wohl auch ein so schönes Geländer gäbe, auf dem man herunterrutschen konnte. Denn das Geländer in diesem Haus reichte vom obersten Stockwerk – direkt vor der kleinen Kammer, von der aus er ganz Berlin überblicken konnte, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte und am Fensterrahmen festhielt – bis ins Erdgeschoss, wo es knapp vor der gewaltigen zweiflügeligen Eichentür endete. Für Bruno gab es nichts Schöneres, als oben auf das Geländer zu steigen und, begleitet von einem zischenden Geräusch, durch das ganze Haus zu rutschen.
Vom obersten Stockwerk hinunter ins nächste, wo sich das Schlafzimmer der Eltern und ein großes Bad befanden, die er keinesfalls betreten durfte.
Dann hinunter ins nächste Stockwerk, wo sein Zimmer, das von Gretel und ein kleineres Bad waren, das er eigentlich häufiger benutzen sollte, als er es letztendlich tat.
Und dann hinunter ins Erdgeschoss, wo man vom Ende des Geländers fiel und auf beiden Füßen landen musste, sonst hatte man fünf Punkte gegen sich und musste wieder von vorn anfangen.
Das Geländer war das Beste am jetzigen Haus – das und die Tatsache, dass Großvater und Großmutter in der Nähe wohnten. Bei dem Gedanken an die beiden fragte er sich, ob sie wohl auch mitkamen, und eigentlich ging er davon aus, denn man konnte sie unmöglich zurücklassen. Auf Gretel hätte er gut verzichten können, weil sie ein hoffnungsloser Fall war – alles wäre sogar viel einfacher, wenn sie hierbleiben und das Haus hüten würde. Aber Großvater und Großmutter? Das war wirklich etwas völlig anderes.
Langsam stieg Bruno die Treppe hinauf zu seinem Zimmer, doch bevor er hineinging, schaute er noch einmal ins Erdgeschoss und sah, wie Mutter in Vaters Büro trat, das gegenüber vom Esszimmer lag und das zu betreten jederzeit und ausnahmslos verboten war. Er hörte, wie sie laut etwas zu Vater sagte, worauf dieser noch lauter etwas erwiderte und damit ihrer Unterhaltung ein Ende setzte. Dann wurde die Bürotür geschlossen. Bruno hörte nichts mehr und hielt es deshalb für besser angebracht, in sein Zimmer zu gehen und Maria das Packen abzunehmen, weil sie sonst womöglich alles sorglos und unbedacht aus dem Schrank zerrte, auch die ganz hinten versteckten Sachen, die nur ihm gehörten und keinen etwas angingen.
Kapitel zwei
Das neue Haus
Als Bruno das neue Haus zum ersten Mal sah, machte er große Augen, sein Mund formte ein staunendes O, und er breitete wieder unwillkürlich die Arme aus. Alles daran war das genaue Gegenteil zu ihrem alten Haus, und er konnte nicht fassen, dass sie hier wirklich leben sollten.
Das Haus in Berlin hatte sich in
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