Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
war die Geschichte, die er seit Tagen zu Ohren bekam. »Und von Jelena haben Sie nie wieder etwas gehört?«
»Nie wieder.«
»Aber Sie waren befreundet.«
»Wie gesagt, sie ist fortgegangen.«
Jordan hob das Sakko auf und schwang es sich über die Schulter. Mehr würde er an diesem Tag nicht erfahren.
»Wer sind Sie?«, fragte Bachmeier.
»Ein Freund.«
Jordan spürte Bachmeiers Blick im Rücken, während er die Schotterstraße zurückging. Er würde wiederkommen, und Bachmeier schien das zu ahnen. Lange stand er da und sah ihm nach.
Dann hörte Jordan einen leisen Befehl und unregelmäßige Schritte, die sich rascher entfernten, als sie gekommen waren.
Kurz darauf war er wieder im Wald, tauchte ein in die Hülle aus Blättern. In ein paar Tagen würde er in die Heimat zurückkehren, und dann, nahm er sich vor, würde er mit der Suche nach einem solchen Ort beginnen, einem Ort, der irgendwann einmal vergessen und vergessen lassen konnte.
2
DIENSTAG, 12. OKTOBER 2010
BERLIN
Lorenz Adamek starrte in das Dunkel jenseits der Fensterfront. Er wusste, dass er nicht mehr einschlafen würde, mochte er auch noch so müde sein. Lohnt sich nicht, sagte sein Hirn seit einer Viertelstunde.
3.44 Uhr.
Noch einunddreißig Minuten.
Der nächtliche Himmel war von Lichtpunkten gesprenkelt und zog sich über Tiergarten, Charlottenburg, das Westend bis tief nach Brandenburg hinein. Kein Gebäude, kein Turm stand dem Blick aus dem 24. Stock im Weg. Man wohnte jetzt Platte in Karolins Kreisen. Ambitionierte Architekten machten aus genormten Ostschachteln individuelle living spaces , in denen gestresste Westintellektuelle – und in ihrem Gefolge Kripobeamte – hoch über Berlin Inspiration und Ruhe fanden.
Mitten in der Stadt leben, von keinem Stück Beton bedrängt.
Nur Weite. Nur Freiheit.
Vorausgesetzt, man kam abends rechtzeitig nach Hause. Adamek kam jeden Tag um sechs, aber er brauchte die Weite und die Freiheit nicht. Karolin, die ihn in die Platte gequatscht hatte, kam nie vor neun, und wenn sie sich das Verlagsleben vom Leib geduscht hatte, waren die Weite und die Freiheit dunkel.
In seinen Kreisen schüttelte man den Kopf, und er verstand sich selbst nicht recht. Er hatte sich nie für die DDR interessiert. Jetzt wohnte er in ihren Resten.
Karolin bewegte sich mit einem schläfrigen Seufzer, ihre Hand strich über seine Schulter. »Hmm … Musst du schon raus?«
»In einer halben Stunde.«
»Hmm … Du Lieber, du …«
Er nahm ihre Hand, küsste ihre Stirn. »Schlaf weiter.«
»Hmm … Und du?«
»Lohnt sich nicht.«
Eine Stunde später lenkte Adamek den Wagen zu Füßen der Freiheitstürme in die Leipziger Straße. Die Scheinwerfer glitten über finstere Fassaden, in der Kälte erstarrte Frühaufsteher an unbeleuchteten Bushaltestellen. Die Weite und die Freiheit waren Illusion, Berlin war hart und abweisend.
Er mochte das.
Tief unten im Betongedränge folgte er dem Blick aus dem 24. Stock nach Westen. Aus den Lautsprechern drangen Mendelssohn-Bartholdys »Lieder ohne Worte«. Nicht unbedingt die Musik seiner Wahl, aber er wollte nicht ins kulturelle Abseits zurück, dort hatte er lange genug gelebt. Hatte es sich in der schlichten Welt der Hitparaden, Schlagzeilen und Groschenromane allzu bequem gemacht.
Bis Karolin gekommen war. Seitdem hörte er Mendelssohn, übte Annäherung durch Gewohnheit.
Er fuhr die Friedrichstraße zum Bahnhof hoch. Eine Handvoll Menschen hetzte über die Straße, über ihnen fuhr eine S-Bahn ein. Grelle Lichter, buntes Treiben hinter den Scheiben der 24-Stunden-Betriebe. Auf seine abweisende Art kümmerte sich Berlin, um alle, rund um die Uhr.
Adamek besorgte sich einen Kaffee und kehrte zum Wagen zurück.
Wer seinen Verstand nicht fordert, verdummt, hatte Karolin beim ersten Rendezvous gesagt. Diese Prophezeiung und die Bestimmtheit ihres Kreuzzuges gegen das Mittelmaß hatten ihn wachgerüttelt. Er ging mit ihr ins Theater, las die Bücher ihres Verlages, beobachtete interessiert, wie sie das elterliche Erbe in überteuertem Designerinventar anlegte.
Zog mit ihr in die Platte.
Und er lernte den Unterschied zwischen Primär- und Sekundärerfahrung kennen. Man muss es fühlen, Lorenz! Man muss als Leser lachen, weinen, lieben können!
Darf man sich auch langweilen?
Man durfte.
Er hatte den Potsdamer Platz erreicht, glitt durch die Häuserschluchten. Fühlte sich zehn Sekunden lang primär wie ein New Yorker.
Richard Ehringer wartete schon.
Der Rollstuhl
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