Der Kirschbluetenmord
und nutzte die Zeit, bei einem Straßenverkäufer ein Mittagessen einzunehmen, wobei er das Risiko einging, sich an den Stand direkt neben dem der vier Sänftenträger zu stellen, so daß er ihre Gespräche mithören konnte. Doch die Männer redeten nur über Belanglosigkeiten. Sano wünschte sich, er hätte den Mut aufgebracht, statt der Sänftenträger Fürst Niu und dessen Freunde zu belauschen. Wenn es so weiterging, würde er es vielleicht niemals mitkriegen, wenn der Fürst irgend etwas über die Morde äußerte. Doch Sanos Entschlossenheit blieb. Wenn es sein mußte, würde er den Fürsten für den Rest seines Lebens verfolgen.
Fürst Niu Masahito übte inzwischen eine gewaltige Anziehungskraft auf Sano aus. Er war jetzt sicher, daß der Fürst seinen Erpresser, die eigene Schwester und Tsunehiko ermordet hatte – und zwar bei dem Versuch, irgendein früheres, nicht minder schreckliches Verbrechen zu vertuschen. Sano durfte diese Bestie nicht aus den Augen lassen! Der Haß steigerte seinen Rachedurst und erfüllte ihn mit Entschlossenheit, alle Entbehrungen und Härten auf sich zu nehmen, die ihm noch bevorstehen mochten. Für den Fall, daß die Verfolgung des Fürsten ihn an einen Ort führen sollte, an dem er nicht an Nahrungsmittel herankam, kaufte Sano sich zwei mochi -Kuchen als Proviant.
Er ertrug seine schmerzenden Beine, die nassen, frierenden Füße und nahm die allgegenwärtige Todesdrohung auf sich, als er dann mit einem brennenden Gefühl gespannter Erwartung beobachtete, wie Fürst Niu das Eßlokal verließ und in die Sänfte stieg.
Zu Sanos Enttäuschung wandten die Träger ihre Schritte in Richtung des yashiki der Nius. Dann aber umgingen sie den Wohnbezirk der Daimyō und folgten einem umständlichen Weg durch gewundene Straßen, über die Nihonbashi-Brücke, am Ufer von Kanälen entlang und durch reiche und ärmliche Gegenden, wobei die Träger sich nach und nach in die nördliche Richtung wandten. Schließlich ließen sie die Randbezirke der Stadt hinter sich und gelangten aufs offene Land.
Sano fühlte sich ziemlich sicher, als er Fürst Niu durch den Kanda-Distrikt folgte. Wogende, bewaldete Hügel lagen braun und grau unter tiefen, dicken Wolken, aus denen beständiger, kalter Nieselregen fiel. Wenngleich die großen Menschenmengen verschwunden waren, herrschte auf der Ōshūkaidō-Fernstraße in Richtung Ueno immer noch reger Verkehr. Viele Reisende waren Bauern und wie Sano gekleidet.
Die Sänftenträger bogen schließlich in eine menschenleere Straße ein, die steil einen Hügel hinauf in den Wald führte. Sano ließ sich immer weiter zurückfallen, um möglichen Blicken der Träger zu entgehen. Doch dann überkam ihn die Angst, sie könnten unbeobachtet in einen der Pfade einbiegen, die von der Straße abzweigten, und er schritt schneller aus und zog sich dabei in die Deckung des Waldes zurück.
Zwar hatten Feuerholzsammler den Waldboden von abgestorbenen Ästen und Zweigen befreit, die Sanos Vorankommen behindert hätten, doch nun sah er sich anderen Hindernissen gegenüber: Er riß sich die schmerzenden Füße an scharfkantigen Felsbrocken auf. Er versank bis zu den Knien in schlammigen Pfützen. Ein Pfeil, der in einem Baumstamm steckte, ließ ihn erkennen, daß er sich im Jagdrevier eines Fürsten befand.
Wie er so durch den Wald hastete, rechnete er jeden Moment damit, daß eine Gruppe berittener Jäger vor ihm erschien. Doch zu seiner Erleichterung endete der Pfad ein kurzes Stück voraus an einer Mauer, in der sich ein überdachtes Tor befand, welches das Wappen der Nius zierte. Die Träger stellten die Sänfte ab, während zwei Samurai aus dem Wachthaus kamen und das Tor öffneten.
Aus der Deckung des Waldes beobachtete Sano, wie das Tor sich hinter den Trägern und der Sänfte schloß und die Posten in ihre Wachthäuschen zurückkehrten. Dies mußte die Sommervilla der Nius sein. Weil der Daimyō sich auf seinem Lehnsgebiet in der Provinz aufhielt und der Rest der Familie den Winter in der Stadt verbrachte, hatte Sano nicht damit gerechnet, die Villa schwer bewacht vorzufinden. Er näherte sich ihr in einem schrägen Winkel, wobei er sich tiefer in den Wald zurückzog, fort vom Tor und der Zugangsstraße. Plötzlich, als bereits die Mauer vor ihm auftauchte, hörte er platschende Schritte auf dem regennassen Boden. Rasch duckte er sich hinter einen Strauch, spähte zwischen den Zweigen hindurch und sah zwei bewaffnete Samurai mit Pfeil und Bogen. Als die Männer am
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