Eulen
1
Roy hätte den fremden Jungen gar nicht bemerkt, wenn Dana Matherson nicht gewesen wäre. Normalerweise schaute Roy während der Busfahrt nämlich nie aus dem Fenster. Lieber las er Comics oder Detektivgeschichten auf dem Weg zur Trace Middle School.
Doch an diesem Tag, einem Montag (Roy würde das nie vergessen), packte Dana Matherson ihn von hinten am Kopf und presste ihm die Daumen in die Schläfen, als würde er einen Fußball quetschen. Die älteren Schüler sollten eigentlich im rückwärtigen Teil des Busses bleiben, aber Dana hatte sich angeschlichen und Roy aus dem Hinterhalt überfallen. Als Roy versuchte freizukommen, drückte Dana ihn mit dem Gesicht gegen das Fenster.
In diesem Moment, als er so durch das verschmierte Glas blickte, entdeckte Roy auf dem Gehweg den fremden Jungen. Er rannte, und es sah so aus, als wollte er den Schulbus noch erwischen, der an einer Ecke angehalten hatte, um weitere Schüler einsteigen zu lassen.
Der Junge war strohblond und drahtig, seine Haut nussbraun von der Sonne. Sein Gesichtsausdruck war ernst und entschlossen. Er trug ein verwaschenes Basketball-Sweatshirt mit dem Aufdruck Miami Heat und schmutzige, khakifarbene Shorts. Das Merkwürdige aber war: Er hatte keine Schuhe an. Seine Fußsohlen sahen so schwarz aus wie Grillkohle.
An der Trace Middle School war man nicht besonders streng, was Kleidung anging, aber irgendwelche Schuhe sollten die Schüler wohl doch anhaben, glaubte Roy. Man hätte vermuten können, dass der Junge seine Turnschuhe im Rucksack hatte, aber dafür hätte er erst einmal einen Rucksack haben müssen. Keine Schuhe, kein Rucksack, keine Bücher, und das an einem Schultag – wirklich merkwürdig!
Roy war überzeugt, dass der Barfüßige Probleme kriegen würde mit Dana und den anderen großen Jungs, sobald er in den Bus stieg, aber dazu kam es nicht …
Der Junge rannte nämlich immer weiter – vorbei an der Ecke, vorbei an den Schülern, die an der Haltestelle anstanden, vorbei am Bus. Roy wollte schon rufen: »He, schaut euch mal den Typ da an!«, aber sein Mund wollte nicht so recht. Dana Matherson hatte Roy noch immer von hinten im Griff und presste ihn mit dem Gesicht gegen die Scheibe.
Als der Bus wieder anfuhr, hoffte Roy, weiter unten an der Straße noch einmal einen Blick auf den Jungen werfen zu können, doch der war inzwischen vom Gehweg abgebogen und lief jetzt über ein Privatgrundstück. Wahnsinnig schnell rannte er, viel schneller, als Roy rennen konnte, vielleicht sogar schneller als Richard, Roys bester Freund zu Hause in Montana. Richard konnte so schnell laufen, dass er schon mit dem Team der High School trainieren durfte, als er erst in der Siebten war.
Dana Matherson grub seine Fingernägel in Roys Kopfhaut und hoffte, Roy würde aufschreien. Aber der spürte kaum etwas, so gebannt sah er zu, wie dieser Junge durch einen gepflegten Garten nach dem anderen rannte und mit zunehmender Entfernung zwischen ihm und dem Schulbus immer kleiner wurde.
Roy sah, wie ein großer Hund mit spitzen Ohren, vermutlich ein deutscher Schäferhund, vor einer Haustür aufsprang und sich auf den Jungen stürzen wollte. Es war unglaublich, aber der Junge änderte die Richtung nicht. Er machte einen Satz über den Hund, schoss durch eine Hecke und war verschwunden.
Roy schnappte nach Luft.
»Na, Cowgirl, was ist? Schon genug?«
Das war Dana, der Roy voll ins Ohr zischte. Als Neuer im Schulbus erwartete Roy nicht, dass die anderen ihm helfen würden. Und dass Dana ihn »Cowgirl« genannt hatte, war harmlos, darüber musste man sich nicht aufregen. Dana war ein Blödmann, das war allgemein bekannt, und außerdem wog er mindestens fünfzig Pfund mehr als Roy. Sich auf einen Kampf einzulassen, wäre totale Energieverschwendung.
»Reicht’s? Wir können dich nicht hören, Tex.« Danas Atem stank nach abgestandenem Zigarettenrauch. Qualmen und jüngere Schüler zusammenschlagen waren seine größten Hobbys.
»Ja, okay«, sagte Roy ungeduldig. »Es reicht.«
Sobald er frei war, schob Roy das Fenster runter und streckte den Kopf hinaus. Der fremde Junge war nicht mehr zu sehen.
Wer war das? Wovor rannte er weg?
Roy fragte sich, ob außer ihm jemand im Bus den Jungen auch bemerkt hatte. Einen Moment lang fragte er sich, ob er selbst ihn überhaupt gesehen hatte.
Am selben Morgen wurde der Polizeibeamte David Delinko zu dem Grundstück geschickt, auf dem eine neue Filiale der Restaurantkette Mama Paulas Pfannkuchenhaus gebaut werden
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