Der Kirschbluetenmord
Klinge in einen dieser Schnitte.
Sano starrte auf das schimmernde rote Gewebe, das zum Vorschein kam, als Mura die Fleischlappen über dem Brustkasten zur Seite klappte; dann blickte er entsetzt auf Muras schleimige Hand, während sie das Instrument führte, um die Lappen abzutrennen. Sano schluckte schwer. Übelkeit stieg in ihm auf und ließ seinen Magen rebellieren. Trotz der kühlen Luft, die durchs Fenster wehte, rannen ihm Schweißtropfen übers Gesicht. Eine Gänsehaut überlief ihn. Er versuchte, die Übelkeit niederzukämpfen, indem er sich auf etwas anderes konzentrierte: Er dachte daran, daß es nun unmöglich geworden war, Noriyoshis Leichnam öffentlich auszustellen, um ihn und seine Familie der Schande preiszugeben; die Spuren der Leichenöffnung ließen sich nicht mehr verwischen. Sano mußte den Befehl erteilen, Noriyoshi auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, sobald er in seine Schreibstube zurückgekehrt war. Doch Sanos Versuch, sich durch diese Gedanken abzulenken, schlug fehl. Er wollte nicht sehen, was Mura tat, konnte aber nicht anders, als trotzdem hinzuschauen.
Er beobachtete, wie Mura nach und nach Noriyoshis Inneres freilegte: die bleichen, schimmernden Rippen; die beiden gräulich-rosafarbenen, schwammigen Lungenflügel; das rote, fleischige Herz und das verschlungene weiße Geflecht der Darmwindungen, das den unteren Rand des Schnittes bildete. Wie ein geschlachtetes Tier, dachte Sano benommen. Entsprechend waren die Ausdünstungen, die aus der geöffneten Höhlung im Leib des Toten drangen: süß, faulig und durchdringend.
Wie andere Männer seines Alters war Sano noch nie in den Krieg gezogen. Natürlich wußte er von den Greueln einer Schlacht: Männer, die mit einem einzigen Schwerthieb enthauptet oder mit Gewehren erschossen worden waren, die man von fremdländischen Barbaren gekauft hatte. Abgetrennte Gliedmaßen. In Stücke gehackte Körper. In historischen Texten hatte Sano Berichte darüber gelesen und Geschichten gehört, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Doch irgendwie hatte er sich das Gemetzel einer Schlacht stets als etwas Edles, Heroisches und Notwendiges vorgestellt, als Bestandteil einer Tradition, die allein den Samurai vorbehalten war. Aber das hier – dieses kühle, unbeteiligte, wohlberechnete Zerstückeln eines menschlichen Körpers – erschien ihm obszön. Es war eine Schändung in ihrer schlimmsten Form. Sano konnte spüren, wie die Verunreinigung seine Haut beschmutzte, wie sie ihm in die Nase stieg und seine Augäpfel trübte. Der Magen drehte sich ihm um. Selbst sein Schweiß schien verpestet zu sein; er brachte es nicht über sich, seine Haut zu berühren und ihn abzuwischen. Sano preßte die Lippen zusammen, um zu verhindern, daß der Schweiß ihm in den Mund lief.
»Die beiden oberen Rippen auf der rechten Seite, Mura -san« , sagte Itō.
Sano beobachtete, wie Mura die Kiefer einer klobigen Zange um eine der Rippen schloß, und schlug die Augen zu, als das widerliche Geräusch brechender Knochen ertönte – einmal, zweimal. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, weshalb Mura sich das Tuch umgeschlungen hatte: Knochensplitter und kleine Stückchen rot schimmernden Gewebes waren jetzt auf dem weißen Tuch zu sehen, mit dem der Eta seinen Mund bedeckt hatte.
»Gut.« Doktor Itō nickte. »Jetzt schneide … hier.« Mit dem Finger zeichnete er über dem Toten eine Linie in die Luft, dort, wo die Rippen gewesen waren, genau über jenem Teil des schwammigen, gräulich-rosa Lungenflügels, der nun freilag. An Sano gewandt, sagte Itō: »Falls er Wasser geschluckt hat, ist es in den Atemsäcken.«
Sano nickte hastig, denn er befürchtete, sich übergeben zu müssen, wenn er auch nur ein Wort sagte. Er beobachtete, wie die dünne Messerklinge in den Lungenflügel drang, und wappnete sich gegen den Anblick, einen Schwall Flüssigkeit daraus hervorschießen zu sehen.
Nichts dergleichen geschah. Statt dessen schrumpfte der Lungenflügel ein wenig zusammen, wie die angestochene Schwimmblase eines Fisches.
»Kein Wasser.« Auf Doktor Itōs Gesicht erschien ein Ausdruck grimmiger Zufriedenheit. »Dieser Mann ist nicht ertrunken. Er war tot, bevor er ins Wasser gelangte. Er wurde ermordet und dann in den Fluß geworfen.«
Sano wurde schwarz vor Augen; die Knie wurden ihm weich, und er schwankte. Dann würgte er.
»Yoriki Sano -san! Ist Euch schlecht?«
Sano versuchte zu antworten, doch bittere Galle brannte ihm in der Kehle. Ohne
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