Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
1. Kapitel
Chiswick, London, 1990
K omm her und halte meine Hand, Liebling. Ich will nicht melodramatisch klingen, aber ich glaube, es geht zu Ende.«
Daisy, die im Begriff gewesen war hinauszugehen, weil sie dachte, ihre Mutter schliefe, wirbelte erschrocken herum.
Lorna Buchan hatte Krebs. Mehr als zwei Jahre hatte sie tapfer mit einer Chemotherapie, einer Mastektomie und unzähligen alternativen Heilmethoden gegen die Krankheit angekämpft und die Hoffnung nie aufgegeben. Aber vor zwei Monaten hatte der Arzt ihr mitgeteilt, der Krebs habe sich im ganzen Körper ausgebreitet. Lorna hatte sich damit abgefunden und jede weitere Therapie im Krankenhaus abgelehnt. Sie wollte die letzten Wochen zu Hause bei ihrer Familie verbringen.
Daisy eilte zu ihrer Mutter. »Ich rufe den Arzt«, sagte sie. Das Herz schlug ihr vor Angst bis zum Hals.
Lorna brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. »Nicht nötig, mein Schatz. Ich habe keine Schmerzen, und ich bin ganz ruhig. Setz dich einfach zu mir.«
Daisy war bestürzt. Sie konnte doch nicht einfach nur dasitzen und tatenlos zusehen, wie ihre Mutter starb! Streiten wollte sie in diesem Moment aber auch nicht mit ihr. Sie ergriff die Hand ihrer Mutter, strich ihr mit der anderen liebevoll über den Kopf und überlegte, was sie tun sollte.
Infolge der Chemotherapie war ihr das schöne honigblonde Haar ausgefallen. Es war weiß und weich wie Babyhaar nachgewachsen. Lornas Gesicht war eingefallen, weil sie stark an Gewicht verloren hatte, und das Blau ihrer Augen wirkte wässrig.
Daisy fand es einfach nicht fair, dass es ausgerechnet ihre Mutter getroffen hatte. Lorna war erst fünfzig und eine robuste Frau gewesen, eine stattliche Erscheinung, immer modisch gekleidet und bekannt für ihr lebhaftes, herzliches Wesen. Vor ihrer Krankheit hatte sie zu jenen energiegeladenen Frauen gehört, die ein Schulfest beaufsichtigen und am Ende dieses anstrengenden Tages alle Helfer noch auf einen kleinen Umtrunk zu sich nach Hause einladen konnten. Sie hatte getanzt und gelacht, bis sich der letzte Gast verabschiedet hatte. Doch am anderen Morgen hatte das ganze Haus schon wieder vor Sauberkeit geblitzt, als hätte nie eine Party stattgefunden.
»Ich muss Daddy aber anrufen«, erklärte Daisy einen Augenblick später.
»Nein, das wirst du nicht«, entgegnete Lorna mit überraschend fester Stimme. »Er hat eine wichtige Besprechung heute Nachmittag, und ich will nicht, dass er panisch nach Hause rast.«
»Aber ich muss doch irgendwas tun! Dann lass mich wenigstens im College anrufen und den Zwillingen Bescheid geben.«
»Nein, sie kommen sowieso bald nach Hause.«
Daisy hatte ihren Job einen Monat zuvor aufgegeben, um ihre Mutter pflegen zu können. Das war kein großes Opfer gewesen – sie hatte diese Arbeit gehasst, genauso wie die vielen anderen Jobs, die sie vorher gehabt hatte. Den Haushalt zu führen und ihre Mutter zu versorgen, war hingegen eine Aufgabe, die sie gern und gut erledigte, und sie hatte stets gedacht, sie sei jeder Situation, mochte sie noch so schwierig sein, gewachsen. Doch in diesem Moment fühlte sie sich überfordert.
»Ich muss wenigstens den Arzt anrufen«, meinte sie entschlossen.
Lorna drehte eigensinnig den Kopf zur Seite, um ihr Missfallen auszudrücken. Daisy griff dennoch zum Telefon auf dem Nachttisch und wählte die Nummer der Praxis.
»Das war unnötig, ich brauche nur dich hier«, sagte Lorna schwach, als Daisy aufgelegt hatte. »Es gibt nämlich etwas, über das ich mit dir reden möchte.«
»Ich werde einen richtigen Beruf erlernen«, versprach Daisy schnell. Sie war jetzt fünfundzwanzig, und sie wusste, ihre Eltern machten sich die größten Sorgen, weil sie so unstet und wenig ehrgeizig war. »Ich hab gedacht, ich geh zur Polizei.«
Lorna lächelte. »Das ist nichts für dich. Erstens magst du nicht herumkommandiert werden, und zweitens bist du so weichherzig, dass du alle Ganoven zum Tee mit nach Hause nehmen würdest.«
»Dann ist es wegen Joel?«
Joel war Polizist und seit einem Jahr Daisys fester Freund. So lange war sie noch nie zuvor mit einem Mann zusammen gewesen. Ihre Eltern mochten ihn, und sie dachte, ihre Mutter werde sie vielleicht drängen, ihn zu heiraten.
»Nein, es ist auch nicht wegen Joel. Das kannst du selbst am besten entscheiden. Ich wollte mit dir über deine leibliche Mutter reden.«
Daisy schaute Lorna entsetzt an. »Ich will jetzt nicht über sie sprechen.«
»Aber ich. Und ich möchte, dass du sie
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