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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Toiletten ging, die sich in einem Anbau gleich hinter den Kasernen befanden. Zu seiner Erleichterung traf er dort keinen seiner Amtskollegen an; denn Sano war aus dem Kameradenkreis ausgeschlossen und wurde mit Herablassung, ja, Verachtung behandelt.
    Nachdem er auf sein Zimmer zurückgekehrt war, half ihm sein Diener beim Waschen und Ankleiden. Sano zog einen frischen schwarzen hakama an, dazu ein weißes Untergewand und einen dunkelblauen, mit schwarzen Quadraten bedruckten Kimono mit schwarzer Schärpe. Das Hausmädchen hatte Sanos Bettzeug derweil im Schrank verstaut, die Kleidung vom gestrigen Tag aufgelesen, um sie zum Waschen zu bringen, und die Matten gefegt. Als der Diener ihm das Haar einölte und ihn frisierte, mußte Sano sich eingestehen, daß das Amt des yoriki seine Vorzüge hatte. Seine Wohnung, die sich auf dem umzäunten Gelände der Polizeikasernen befand, war größer und schöner, als er es je erwartet hatte. Im Schlafraum hätte eine ganze Familie nächtigen können, und das nicht minder große Wohnzimmer besaß eine Nische mit Schreibpult und Regalen, die in die Wände eingelassen waren, wie im Hause eines reichen Mannes. Sanos Einkünfte betrugen zweihundert koku jährlich – eine Summe, von der man zweihundert Menschen ein Jahr lang mit Reis hätte ernähren können. Selbst nach Abzug der Unkosten für Wohnung und Verpflegung, der Löhne für die Dienerschaft und der Stallgebühren blieb Sano ein Vielfaches seines früheren Lehrergehalts.
    Er seufzte leise, als er den Diener entließ und zum Speisesaal der Kaserne ging. Was nutzten ihm alle diese Privilegien? Da seine Amtskollegen ihm alles andere als kameradschaftlich begegneten, konnte er sich an den vielen Annehmlichkeiten seines neuen Berufs nicht recht erfreuen.
    Obwohl es schon spät war, knieten noch immer sechs Männer im Speisesaal beim Frühstück: Yamaga, Hayashi und vier weitere yoriki. Sie alle waren tadellos gekleidet und frisiert und hielten Teeschalen in den manikürten Händen. Die Männer hoben die Köpfe, als Sano im Türeingang innehielt, und blickten ihn an. Die Gespräche verstummten.
    Dann sagte Hachiya Akira, der dienstälteste yoriki, ein massiger, pausbäckiger Mann in den Fünfzigern: »Wir dachten schon, Ihr kommt nicht.« Er nahm einen Schluck Tee. »Danke, daß Ihr uns die Ehre gebt, Euch zu uns zu setzen.« Auch im gedämpften Murmeln der anderen lagen Mißbilligung und leise Ironie.
    »Ich bitte um Vergebung«, sagte Sano und nahm seinen Platz neben Hayashi ein. So unwillkommen er bei den anderen yoriki auch sein mochte, erwarteten sie dennoch von ihm, daß er mit ihnen gemeinsam die Mahlzeiten einnahm und sich auf ihren Zimmern einfand, wenn sie sich abends trafen, um zu trinken und zu plaudern. Sano hätte es vorgezogen, in seiner Wohnung zu essen und seine Freizeit mit Lesen oder in der Gesellschaft alter Freunde zu verbringen. Doch das Erdulden der Sticheleien und Kränkungen, des Ausgeschlossenseins und der Einsamkeit war eine Pflicht, der er sich nicht entziehen konnte.
    »Na schön.« Hachiya beachtete Sano nicht weiter, wandte sich den anderen zu und nahm das Gespräch wieder auf, das sich wie üblich um Politik drehte.
    »Was man von unserer Regierung auch halten mag«, sagte er, »eins kann niemand bestreiten: Sie sorgt im ganzen Land für Ruhe und Ordnung. Seit dem Shimabara-Bauernaufstand vor mehr als fünfzig Jahren gab es keine nennenswerten inneren Unruhen. Wir brauchen keinen Bürgerkrieg mehr zu befürchten, weil die Militärmacht der Tokugawas weitaus stärker ist als die jeder anderen Daimyō-Familie, die das Herrscherhaus herausfordern könnte.«
    Sano war anderer Meinung, doch er schwieg. Er wußte, daß viele ehrgeizige Männer sich im Laufe der Geschichte mehr als einmal erfolgreich gewaltigen Herausforderungen gestellt hatten, um die Macht an sich zu reißen. Vor fünfhundert Jahren, beispielsweise, hatte Minamoto Yoritomo – ein Ahnherr der herrschenden Tokugawas – das kaiserliche Heer besiegt und war Shōgun geworden. Dann wieder hatte die Ashikaga-Sippe die Minamotos verdrängt. Und in jüngerer Zeit hatten große Feldherren einen fast hundert Jahre währenden Bürgerkrieg geführt, um die Macht an sich zu reißen. Kein Kaiserhaus überdauerte für immer; auch die Herrschaft der Tokugawas würde irgendwann enden, ungeachtet ihrer scheinbar dauerhaften militärischen Überlegenheit. Daß die Regierung blitzschnell handelte, wenn es galt, drohende Aufstände aufzudecken und

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