Der Kirschbluetenmord
ausbreiteten.
Durch den Dunst konnte Sano den Palast von Edo erkennen, der auf einem Hügel am Ende des Kanals stand. Dort hatte Ieyasu, der erste Tokugawa-Shōgun, vor vierundsiebzig Jahren das Zentrum seiner Militärdiktatur eingerichtet, fünfzehn Jahre, nachdem er die gegnerischen Kriegsherrn in der Schlacht von Sekigahara geschlagen hatte. Die in die Höhe gebogenen Vorsprünge der vielen Dächer des Palasts verliehen ihm das Aussehen einer Pyramide aus weißen Vögeln, die im Begriff waren, sich in die Luft zu erheben: ein passendes Symbol für den Frieden, der nach der Schlacht eingetreten war – die längste Friedenszeit, die Japan seit fünfhundert Jahren erlebt hatte.
Hinter dem Palast lag das Hügelland im Westen; pastellene Schemen, die nur um weniges blauer waren als der Himmel. Der ferne, schneebedeckte Kegel des Fujiyama ragte über den Hügeln empor. Leise wehte das Klingeln von Tempelglocken an Sanos Ohren und trug zur Kakophonie der Geräusche bei.
Am Fuß der Brücke angelangt, kam Sano am lärmenden, übelriechenden Fischmarkt vorüber. Er trieb sein Pferd durch die schmalen, gewundenen Straßen von Nihonbashi, dem Viertel der Bauern und Händler, das nach der Brücke benannt war. In einer der Straßen, in den offenen Eingängen der aus Holz errichteten Läden, feilschten Sakeverkäufer mit ihren Kunden. Hinter der nächsten Straßenecke befand sich eine Reihe von Färbereien; hier arbeiteten Männer an dampfenden Bottichen. Die Hufe des Pferdes und die Sandalen der Passanten bewegten sich mit schmatzenden, glucksenden Lauten über den schlammigen, von Abfällen bedeckten Boden. Sano bog um eine weitere Straßenecke.
Und gelangte auf eine große freie Fläche, wo in der letzten Nacht ein Feuer drei Straßenzüge vollkommen niedergebrannt hatte. Die verkohlten Überreste von etwa fünfzig Häusern – nasse Asche, geschwärzte Balken und Dachsparren, durchnäßte Trümmer und Dachziegel – lagen auf dem Boden verstreut. Der bittere Geruch von verbranntem Zypressenholz hing in der Luft. Verzweifelte Anwohner wühlten auf der Suche nach Gegenständen, die noch zu gebrauchen waren, durch die schwelenden Haufen aus Asche, Schmutz und Schutt.
»Aiija« , klagte eine alte Frau. »Mein Haus ist vernichtet, all mein Hab und Gut! Was soll ich nur tun?« Andere stimmten in ihr Klagen ein.
Sano seufzte und schüttelte den Kopf. Vor zweiunddreißig Jahren – zwei Jahre vor seiner Geburt – hatte das Große Feuer den größten Teil der Stadt verschlungen und hunderttausend Menschenleben gefordert. Und noch immer sprossen die »Blüten von Edo«, wie die Brände hier genannt wurden, fast jede Woche zwischen den Holzhäusern, wo der steife Wind einen einzigen Funken rasch zu einer verheerenden Feuersbrunst entfachen konnte. Deshalb läuteten die Feuerwächter von ihren wackligen hölzernen Türmen hoch über den Dächern beim ersten Anblick einer offenen Flamme die Alarmglocken. Die Bürger Edos schliefen unruhig, stets darauf gefaßt, den Feueralarm zu vernehmen. Die meisten Brände waren Unglücksfälle und entstanden durch ein harmloses Mißgeschick, etwa durch eine Lampe, die jemand zu nahe an einen Wandschirm aus Papier gestellt hatte. Doch auch Brandstiftung war keine Seltenheit.
Sano war sicher, daß er erfahren würde, ob dieses Feuer durch Brandstiftung entstanden war. Doch ein Blick auf die Ruinen zeigte ihm, daß er nicht damit rechnen konnte, dort den Beweis dafür zu finden. Er mußte sich auf die Schilderungen von Zeugen stützen. Sano stieg vom Pferd und trat auf einen Mann zu, der eine eiserne Kiste aus dem Schutt zerrte.
»Habt Ihr beobachtet, wie das Feuer ausgebrochen ist?« rief Sano.
Die Antwort bekam er nie, denn in diesem Augenblick erklangen hinter ihm schnelle Schritte und die Rufe: »Bleib stehen! Bleib stehen!« Sano drehte sich um. Ein dünner, in Lumpen gekleideter Mann rannte keuchend und schluchzend an ihm vorbei. Ein Pöbelhaufe verfolgte ihn, schreiend und Knüttel schwingend. Plötzlich rutschte der barfüßige Mann auf dem schlammigen Untergrund aus und fiel etwa zehn Schritt von Sano entfernt zu Boden. Sofort stürzten die Verfolger sich auf den Mann und schlugen mit den Knütteln auf ihn ein.
»Dafür wirst du sterben, du erbärmlicher Hund!« rief einer von ihnen.
Die Schluchzer des zerlumpten Mannes wurden zu Schreien der Angst und des Schmerzes. Er warf die Arme in die Höhe, um sich vor den Schlägen zu schützen.
Sano eilte zu der Gruppe hinüber und
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