Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Glück, dass er überhaupt so lange bei uns war.
Und dieser Gedanke war es, der Charlotte im Nebel der Medikamente an jenem heißen Morgen in ihrem verdunkelten Zimmer in den Sinn kam: dass Libby die Wahrheit gesagt hatte. Dass Robin, seit er ein Baby gewesen war, auf irgendeine seltsame Art sein Leben lang versucht hatte, ihr auf Wiedersehen zu sagen.
Edie war die Letzte, die ihn gesehen hatte. Danach wusste eigentlich niemand mehr etwas Genaues. Während die Familie im Wohnzimmer plauderte – die Schweigepausen wurden jetzt länger, und alle schauten sich wohlig um und warteten darauf, dass sie zu Tisch gerufen wurden –, kauerte Charlotte auf Händen und Knien vor der Anrichte im Esszimmer und wühlte
nach ihren guten Leinenservietten (beim Hereinkommen hatte sie gesehen, dass der Tisch mit den baumwollenen Alltagsservietten gedeckt gewesen war; Ida behauptete – typisch –, sie habe noch nie von den andern gehört, und die karierten Picknickservietten seien die einzigen, die sie habe finden können). Charlotte hatte die guten eben gefunden und wollte Ida rufen ( Siehst du? Sie waren genau da, wo ich es gesagt habe. ), als sie plötzlich das sichere Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte.
Das Baby. Dem Baby galt ihr erster Gedanke. Sie sprang auf, ließ die Servietten auf den Teppich fallen und rannte hinaus auf die Veranda.
Aber Harriet fehlte nichts. Sie saß immer noch angeschnallt in ihrer Wippe und starrte ihre Mutter mit großen, ernsten Augen an. Allison saß auf dem Gehweg und hatte den Daumen im Mund. Sie wiegte sich – offenbar unversehrt – vor und zurück und gab ein wespenartiges Summen von sich, aber Charlotte sah, dass sie geweint hatte.
Was ist los?, fragte sie. Hast du dir wehgetan?
Aber Allison schüttelte den Kopf, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen.
Aus dem Augenwinkel sah Harriet am Rande des Gartens eine Bewegung aufblitzen – Robin? Doch als sie aufblickte, war dort niemand zu sehen.
Bist du sicher?, fragte Charlotte. Hat das Kätzchen dich gekratzt?
Allison schüttelte den Kopf: nein. Charlotte kniete nieder und untersuchte sie rasch: keine Beulen, keine Schrammen. Die Katze war verschwunden.
Immer noch voller Unbehagen, gab Charlotte ihr einen Kuss auf die Stirn und führte sie ins Haus (»Willst du nicht in die Küche gehen und sehen, was Ida macht?«), und dann ging sie wieder hinaus, um nach dem Baby zu sehen. Sie hatte diese traumartig aufblitzende Panik schon öfter gespürt, meistens mitten in der Nacht, und immer wenn ein Kind weniger als sechs Monate alt gewesen war; dann war sie aus tiefem Schlaf hochgeschossen und zum Kinderbett geeilt. Aber Allison fehlte
nichts, und das Baby war wohlauf... Sie ging ins Wohnzimmer und deponierte Harriet bei ihrer Tante Adelaide, hob die Servietten vom Esszimmerteppich auf und wanderte – immer noch halb schlafwandelnd, sie wusste nicht, warum – in die Küche, um das Aprikosenglas für das Baby zu holen.
Ihr Mann Dix hatte gesagt, dass man mit dem Essen nicht auf ihn warten sollte. Er war auf der Entenjagd. Das war gut und schön. Wenn Dix nicht in der Bank war, war er meistens auf der Jagd oder drüben im Haus seiner Mutter. Sie stieß die Küchentür auf und schob einen Schemel vor den Schrank, um das Glas für das Baby herauszuholen. Ida Rhew stand gebückt vor dem Herd und zog ein Blech mit Brötchen heraus. Gott, sang eine brüchige Negerstimme aus dem Transistorradio, Gott ändert sich nie.
Die Gospelsendung. Diese Gospelsendung war etwas, das Charlotte quälte, auch wenn sie nie jemandem davon erzählt hatte. Wenn Ida diesen Krach nicht so laut aufgedreht hätte, dann hätten sie vielleicht hören können, was im Garten vor sich ging, hätten vielleicht merken können, dass etwas nicht stimmte. Andererseits (nachts warf sie sich im Bett hin und her und versuchte ruhelos, die Ereignisse bis zu einer ersten Ursache zurückzuverfolgen) war sie es gewesen, die die fromme Ida gezwungen hatte, überhaupt am Sonntag zu arbeiten. Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Der Jahwe des Alten Testaments hatte Menschen immer wieder für sehr viel weniger zerschmettert.
Diese Brötchen sind fast fertig, sagte Ida Rhew und beugte sich wieder vor dem Herd.
Ida, die übernehme ich schon. Ich glaube, es gibt Regen. Hol doch die Wäsche herein, und rufe Robin zum Essen.
Als Ida steif mit einer Armladung weißer Hemden ächzend zurückkam, sagte sie mürrisch: Er kommt nicht.
Sag ihm, er soll auf der Stelle
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