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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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herkommen.
    Ich weiß nicht, wo er ist. Hab ihn ein halbes Dutzend Mal gerufen.
    Vielleicht ist er über die Straße gelaufen.
    Ida warf die Hemden in den Bügelkorb. Die Fliegentür knallte. Robin , hörte Charlotte sie schreien. Komm her jetzt, oder es setzt was.
    Und dann noch einmal: Robin!
    Aber Robin kam nicht.
    Ach, um Himmels willen, sagte Charlotte, und sie trocknete sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab und ging hinaus.
    Draußen wurde ihr – mit leisem Unbehagen, das mehr Ärger war als irgendetwas anderes – klar, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie suchen sollte. Sein Fahrrad lehnte an der Veranda. Er wusste, dass er so kurz vor dem Abendessen nicht mehr weggehen durfte, schon gar nicht, wenn sie Besuch hatten.
    Robin!, rief sie. Ob er sich versteckt hatte? In der Nachbarschaft wohnten keine Kinder in seinem Alter; zwar kamen ab und zu verwahrloste Kinder, schwarze wie weiße, vom Fluss herauf zu den breiten, von Eichen überschatteten Gehwegen der George Street, aber jetzt war keins von ihnen zu sehen. Ida hatte ihm verboten, mit ihnen zu spielen, aber manchmal tat er es trotzdem. Die Kleinsten waren zum Erbarmen mit ihren verkrusteten Knien und schmutzigen Füßen; Ida Rhew verscheuchte sie schroff aus dem Garten, aber Charlotte gab ihnen, wenn sie sich mild gestimmt fühlte, mitunter einen Vierteldollar oder ein Glas Limonade. Wenn sie hingegen älter wurden – dreizehn oder vierzehn –, war sie froh, wenn sie sich ins Haus zurückziehen und es Ida überlassen konnte, sie mit all ihrem Ingrimm zu verjagen. Sie schossen mit Luftgewehren auf Hunde, stahlen Sachen von den Veranden der Leute, benutzten eine unflätige Sprache und streunten bis spät nachts durch die Straßen.
    Ida sagte: Ein paar von den verkommenen kleinen Jungs sind vorhin die Straße runtergelaufen.
    Wenn Ida »verkommen« sagte, meinte sie »weiß«. Ida hasste die armen weißen Kinder und gab ihnen mit unbeirrbar einseitigem Zorn die Schuld an sämtlichen Gartenmissgeschicken, selbst an denen, für die sie nach Charlottes Ansicht unmöglich verantwortlich sein konnten.
    War Robin bei ihnen?, fragte Charlotte.
    Nein.
    Wo sind sie jetzt?
    Hab sie verjagt.
    In welche Richtung?
    Runter, Richtung Depot.
    Die alte Mrs. Fountain von nebenan in ihrer weißen Strickjacke und mit der Schmetterlingsbrille war in ihren Vorgarten gekommen, um zu sehen, was los war, begleitet von ihrem hinfälligen Pudel Mickey. Die beiden sahen sich auf komische Weise ähnlich: spitze Nase, starre graue Löckchen, misstrauisch vorgeschobenes Kinn.
    Na, rief sie fröhlich, feiert ihr ’ne große Party da drüben?
    Nur die Familie, rief Charlotte zurück und suchte den dunkler werdenden Horizont jenseits der Natchez Street ab, wo die Bahngleise sich flach in die Ferne erstreckten. Sie hätte Mrs. Fountain zum Essen einladen sollen. Mrs. Fountain war Witwe, und ihr einziges Kind war im Koreakrieg gefallen, aber sie war eine Nörglerin und eine bösartige Klatschbase. Mr. Fountain, Inhaber einer Textilreinigung, war früh gestorben, und die Leute behaupteten scherzhaft, sie habe ihn unter die Erde geredet.
    Was ist los?, fragte Mrs. Fountain.
    Sie haben Robin nicht gesehen, oder?
    Nein. Ich war den ganzen Nachmittag oben und habe den Speicher ausgeräumt. Ich weiß, ich sehe furchtbar aus. Sehen Sie den ganzen Plunder, den ich herausgeschleppt habe? Ich weiß schon, dass die Müllabfuhr erst am Dienstag kommt, und es ist mir unangenehm, das ganze Zeug einfach so auf der Straße zu lassen, aber ich weiß nicht, was ich sonst machen soll. Wo ist Robin denn hingelaufen? Können Sie ihn nicht finden?
    Er ist sicher nicht weit, sagte Charlotte und trat auf den Gehweg hinaus, um die Straße hinunterzuspähen. Aber es ist Essenszeit.
    Gibt gleich ein Gewitter, sagte Ida Rhew und schaute in den Himmel.
    Sie glauben doch nicht, dass er in den Fischteich gefallen
ist, oder?, fragte Mrs. Fountain besorgt. Ich hab immer schon befürchtet, dass eins von diesen Kleinen da mal reinfällt.
    Der Fischteich ist nicht einmal einen halben Meter tief, sagte Charlotte, aber sie machte doch kehrt und ging nach hinten in den Garten.
    Edie war auf die Veranda herausgekommen. Ist was?, fragte sie.
    Er ist nicht hinten, rief Ida Rhew. Ich hab schon geguckt.
    Als Charlotte an der Seite des Hauses am offenen Küchenfenster vorbeiging, hörte sie immer noch Idas Gospelsendung.
    Sanft und liebevoll ruft Jesus,
Ruft nach dir und ruft nach mir,
Sieh nur, an der Himmelspforte
Wacht

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