Der kleine Freund: Roman (German Edition)
PROLOG.
Für den Rest ihres Lebens würde Charlotte Cleve sich die Schuld am Tod ihres Sohnes geben, weil sie entschieden hatte, das Muttertagsessen abends um sechs stattfinden zu lassen und nicht mittags nach der Kirche, wie es bei den Cleves sonst üblich war. Die älteren Cleves hatten ihren Unmut über diese Planung zum Ausdruck gebracht, und wenn dies auch hauptsächlich auf ihren prinzipiellen Argwohn gegen jegliche Art von Neuerung zurückzuführen war, ahnte Charlotte, dass sie auf das unterschwellige Murren hätte hören sollen – als eine zarte, aber ominöse Warnung vor dem, was geschehen würde, eine Warnung, die einem zwar selbst rückblickend noch reichlich undeutlich erscheint, die aber vielleicht so gut war wie jede andere, auf die wir in diesem Leben hoffen dürfen.
So sehr die Cleves das Erzählen liebten und sich gegenseitig sogar die geringfügigeren Ereignisse ihrer Familiengeschichte wiederholt schilderten – Wort für Wort, mit ausgefeilten stilistischen und rhetorisch wirksamen Pausen, ganze Sterbeszenen oder auch hundert Jahre zuvor gemachte Heiratsanträge – , die Ereignisse dieses schrecklichen Muttertags wurden doch niemals erörtert. Niemals, nicht einmal in unbeobachteten Zweiergruppen, zusammengeführt durch eine lange Autofahrt oder durch geteilte Schlaflosigkeit in nächtlichen Küchen, und das war ungewöhnlich, denn mit Hilfe dieser familiären Erörterungen machten die Cleves sich einen Reim auf die Welt. Noch die grausamsten und willkürlichsten Katastrophen – der Feuertod, der einen von Charlottes Cousins im Säuglingsalter ereilt hatte, oder der Jagdunfall, bei dem Charlottes Onkel zu Tode gekommen war, als sie noch zur höheren Schule ging – wurden ständig bei ihnen durchgespielt, und die
sanfte Stimme ihrer Großmutter und die strenge ihrer Mutter verschmolzen harmonisch mit dem Bariton ihres Großvaters und dem Geschnatter der Tanten. Bestimmte Ausschmückungen, improvisiert von wagemutigen Solisten, wurden eifrig aufgenommen und vom Chor ausgearbeitet, bis sie schließlich mit vereinten Kräften bei einem einzigen Lied angelangt waren, einem Lied, das dann auswendig gelernt und von der ganzen Gesellschaft wieder und wieder gesungen wurde, und nach und nach höhlte es die Erinnerung aus und nahm den Platz der Wahrheit ein: Der zornige Feuerwehrmann, gescheitert in seinen Bemühungen, den winzigen Leichnam wieder zu beleben, vollzog die süße Wandlung zum weinenden Feuerwehrmann. Der trübselige Hühnerhund, den der Tod seines Herrn für mehrere Wochen in Verwirrung stürzte, gestaltete sich zur kummervollen Queenie der Familienlegende, die ihren Geliebten unermüdlich im ganzen Hause suchte und nachts untröstlich in ihrem Zwinger heulte, und die in freudiger Begrüßung bellte, wenn der liebe Geist durch den Garten herankam, ein Geist, den nur sie selbst wahrnehmen konnte. »Hunde können Dinge sehen, die wir nicht sehen können«, intonierte Charlottes Tante Tat stets aufs Stichwort an der entsprechenden Stelle der Geschichte; sie hatte eine mystische Ader, und der Geist war eine von ihr eingeführte Neuerung.
Aber Robin: ihr lieber kleiner Robs. Mehr als zehn Jahre später war sein Tod noch immer eine Qual; da gab es kein Detail zu beschönigen, und keiner der narrativen Kunstgriffe, die den Cleves zu Gebote standen, konnte das Grauenvolle daran beheben oder umwandeln. Und da diese eigenwillige Amnesie verhindert hatte, dass Robins Tod in jene gute alte Familiensprache übersetzt wurde, die selbst die bittersten Geheimnisse zu behaglicher, begreiflicher Form glättete, war die Erinnerung an die Ereignisse jenes Tages von chaotischer, fragmentierter Beschaffenheit – gleißende Spiegelscherben eines Alptraums, die aufblitzten beim Duft der Glyzine, beim Knarren einer Wäscheleine, oder wenn das Licht eines Frühlingstags einen bestimmten Gewitterton annahm.
Manchmal erschienen diese eindringlich aufstrahlenden Erinnerungen wie die Bruchstücke eines bösen Traums – als wäre das alles nie geschehen. Und doch schien es in vielfacher Hinsicht das einzig Wirkliche zu sein, das in Charlottes Leben je geschehen war.
Die einzige Erzählweise, die sie diesem Gewirr von Bildern überstülpen konnte, war die Überlieferung des Rituals, das seit ihren Kindertagen unverändert war: der fest gefügte Rahmen des Familientreffens. Aber selbst das war wenig hilfreich: Gebräuche waren in jenem Jahr missachtet, Hausregeln ignoriert worden. Rückblickend verschmolz
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