Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Jersey. Sie hatten einen Sohn von 21 Monaten; seine Eltern hatten ihn auf den Namen Charles Jr. getauft, aber die Journalisten sprachen nur vom »kleinen Adler«. Es war die Blütezeit des Sensationsjournalismus: Gerissene Reporter und Verleger wussten ganz genau, dass eine Lindbergh-Geschichte - und zwar fast jede Lindbergh-Geschichte - eine todsichere Methode war, um Zeitungen zu verkaufen. Als nun der Erbe und Stammhalter von Charles Lindbergh entführt wurde, brach einen Medienhysterie los: Der Fall lockte mehr Journalisten an als der Erste Weltkrieg. Die Erpresserbriefe, in denen zunächst ein Lösegeld von 50 000, später von 70 000 Dollar verlangt wurde, machten Schlagzeilen und beherrschten die Wochenschauen; die gleiche Wirkung hatten Behauptungen aus verschiedenen Orten in den gesamten Vereinigten Staaten, man habe das Lindbergh-Baby gesund und wohlbehalten aufgefunden. Aber alle derartigen Meldungen und die damit verbundenen Hoffnungen zerschlugen sich zwei Monate nach der Entführung, als man in einem Wald, nur wenige Kilometer vom Anwesen der Lindberghs entfernt, eine Kinderleiche fand. Der Körper war bereits stark verwest; das linke Bein fehlte vom Knie an abwärts, ebenso beide Arme - sie waren offensichtlich von Tieren abgebissen worden.
Anhand der Größe der Leiche, ihrer Bekleidung und einer charakteristischen Fehlbildung am verbliebenen Fuß - drei übereinander stehende Zehen - wurden die Überreste schnell als Lindbergh-Baby identifiziert. Am nächsten Tag wurden sie eingeäschert, und Charles Lindbergh flog mit gebrochenem Herzen wieder einmal allein über den Atlantik, um dort die Asche seines Sohnes zu verstreuen. Jetzt nannte ihn niemand mehr »Lucky Lindy«.
Die Polizei nahm schließlich einen deutschen Einwanderer namens Bruno Hauptmann fest. Er war Zimmermann, und Dachsparren aus seiner Werkstatt hatten offenbar zum Bau einer behelfsmäßigen Leiter gedient, mit der jemand in das Kinderzimmer im zweiten Stock des Lindbergh-Hauses eingedrungen war. Nachdem die Polizei einen großen Teil des Lösegeldes zu ihm zurückverfolgt hatte, wurde Hauptmann verhaftet. Man klagte ihn wegen Kindesentführung und Mordes an: Der Schädel des Kindes war gebrochen - diese Verletzung hätte aber auch von einem Sturz stammen können, denn die Leiter ging während der Entführung zu Bruch. Obwohl es auch Hinweise darauf gab, dass manche Indizien gegen ihn fragwürdig oder gefälscht seien, wurde Hauptmann verurteilt. Er starb im April 1936 auf dem elektrischen Stuhl.
50 Jahre nach dem Verbrechen, im Juni 1982, nahm ein Anwalt mit mir Kontakt auf. Er vertrat Anna, die Witwe von Bruno Hauptmann. In all den Jahren seit der Hinrichtung hatte Mrs. Hauptmann sich bemüht, den Namen ihres Mannes reinzuwaschen. Ihre einzige Chance lag in einem Dutzend winziger Knochen. Sie waren nach der Einäscherung der Leiche am Tatort geborgen worden, und seitdem hatte die Polizei des Bundesstaates New Jersey sie sorgfältig aufbewahrt. Auf die Bitte von Mrs. Hauptmanns Anwalt hin fuhr ich nach Trenton; ich wollte feststellen, ob es bei dieser Hand voll zerschmetterter Knochen irgendwelche Anhaltspunkte dafür gab, dass man die Leiche falsch identifiziert hatte - dass der Wunsch, schnell zu einem Urteil zu gelangen, einen schrecklichen Justizirrtum verursacht hatte. Lass es die Knochen eines kleineren oder älteren Jungen sein, oder die von einem Mädchen, muss Mrs. Hauptmann gebetet haben. Alles andere, nur nicht die Knochen von Charles Lindbergh, Jr.
Ich war ihre letzte Hoffnung - ein Kleinstadtwissenschaftler, der an einer Mautstelle den Verkehr aufhielt, weil er sich nach dem Weg zur Zentrale der New Jersey State Police erkundigte.
Ein langer, faszinierender Weg hatte mich nach Trenton geführt, und damit meine ich nicht den New Jersey Turnpike. Hinter mir lag eine Laufbahn, die einst in die Richtung eines ereignislosen Lebens als Anwalt gewiesen hatte, dann aber einen anderen Weg eingeschlagen hatte - hin zu Leichen, Verbrechensschauplätzen und Gerichtssälen.
Der Ausgangspunkt für meine Karriere als Gerichtsmediziner war ein frühmorgendlicher Unfall nicht weit von Frankfort (Kentucky) im Winter 1954. An jenem feuchten, nebligen Morgen stießen auf einer zweispurigen Landstraße zwei Lastwagen frontal zusammen und gingen in Flammen auf. Als das Feuer gelöscht war, fand man in den Fahrzeugen drei bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichen. Die Identität der beiden Fahrer ließ sich schnell feststellen, aber die
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