Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
wurde, der mit einem roten Fähnchen auf sich aufmerksam machte.
»Der Briefkasten ist eigentlich nicht für unsere Bewohner gedacht«, sagte Dr. Bass recht einfältig zu mir, als könnte ich auf die Idee kommen, dass die hier herumliegenden Toten nach Hause schrieben, um auf dem Laufenden zu bleiben. »Es ist nur so, dass wir hier draußen kein Telefon haben.«
Sie haben bis heute noch keines. Die Wissenschaftler tragen wahrscheinlich wie ich ein Handy bei sich, aber meist holen sie es nicht aus der Tasche, wenn sie schmierige Gummihandschuhe und dazu vielleicht noch Gummistiefel und die Chirurgenmasken tragen. Wenn man in der Body Farm viel zu tun hat, kommt es einem kaum in den Sinn, jemanden anzurufen.
Während meiner gesamten Laufbahn habe ich behauptet, dass Gerichtsmediziner wie meine Gestalt Dr. Kay Scarpetta die Toten sprechen hören. Die Toten haben uns viel zu sagen, aber nur Menschen mit besonderer Ausbildung und besonderen Begabungen haben die Geduld, ihnen trotz der Beleidigung unserer Sinnesorgane zuzuhören. Nur ganz besondere Menschen können eine Sprache deuten, um die nur die wenigsten Lebenden sich überhaupt kümmern, von Verstehen ganz zu schweigen.
Willkommen also auf der Body Farm von Dr. Bill Bass, jener Einrichtung, die genau in diesem Augenblick auf einem bewaldeten, vom Tod durchtränkten Landstück hinter einem Krankenhaus in den Hügeln von Tennessee tatsächlich existiert.Viele ihrer schweigenden Gäste kommen aus eigenem, selbstlosem Entschluss (wobei sie die Reservierung häufig Monate oder sogar Jahre im die Voraus tätigen, indem sie ihre Leichen für Dr. Bass’ bemerkenswerte, immer noch laufende Untersuchung zur Verfügung stellen). Jeden Tag werden verwundete und verbrauchte Körper in die Erde gebettet und von Vögeln, Insekten oder anderen Raubtieren weggetragen, die einfach nur ein Teil der Nahrungskette sind und dem Tod keineswegs besonders nahe stehen.
Die Veränderungen dessen, was einst das Fleisch eines Menschen war, können so geringfügig sein wie ein Wechsel der Schatten, aber auch so dramatisch wie ein Brand in einem der alten, verrosteten Autos, die in der Umgebung der Body Farm herumliegen. Die Jahre kommen und gehen genau wie die Toten, die sich in Asche und Knochen verwandelt haben, und Dr. Bass’ geduldige Übersetzung leistet ihren Beitrag zur fließenden Beherrschung einer geheimen Sprache, die uns dabei hilft, Verbrecher dingfest zu machen und jene, die kein Unrecht getan haben, zu entlasten.
Patricia Cornwell
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Die Knochen des kleinen Adlers
E in Dutzend winzige Knochen, zusammengewürfelt in meiner hohlen Hand: Mehr war eigentlich nicht geblieben, außer vergilbten Zeitungsausschnitten, zerkratzten Wochenschaufilmen und schmerzlichen Erinnerungen. Aber damals war vom »Jahrhundertprozess« die Rede.
Mit dem Etikett wird wohl ein wenig großzügig umgegangen, aber in diesem Fall stimmte es vielleicht. Sieben Jahre nach dem »Affenprozess« gegen Scopes und ein halbes Jahrhundert vor der O.-J.-Simpson-Katastrophe verfolgte ganz Amerika gebannt einen Kriminalfall und einen Mordprozess, die auf der ganzen Welt für Schlagzeilen sorgten. Und ich sollte nun entscheiden, ob man damals Recht gesprochen oder einen Unschuldigen zu Unrecht hingerichtet hatte.
Es ging um die Entführung und den Tod eines Kleinkindes namens Charles Lindbergh, Jr. - bekannt wurde es allgemein als das »Lindbergh-Baby«.
Im Jahr 1927 überquerte Charles Lindbergh, früherer Pilot bei »Barnstorming Tours« und beim Luftpostdienst, mit seiner kleinen einmotorigen Spirit of St. Louis den Atlantik. Er flog ganz allein, ohne Funk, Fallschirm oder Sextanten; 33 Stunden blieb er wach und hielt den Kurs. Als er die französische Küste erreichte, hatte sich die Nachricht über seinen Flug bereits bis nach Paris herumgesprochen, und die Bewohner der Hauptstadt strömten zu Tausenden auf den Flugplatz, um ihn zu begrüßen. Als er aufsetzte, hatte er seit seinem Abflug in New York mehr als 5800 Kilometer zurückgelegt und die Welt verändert. Aber nun veränderte sich auch Charles Lindberghs Leben. Seine großartige Leistung brachte ihm Ruhm, Geld und eine ganze Reihe von Spitznamen ein: »Lucky Lindy« - was ihm nicht gefiel - und »the Lone Eagle« (»Der einsame Adler«) in Anspielung auf seinen Alleinflug und sein einzelgängerisches Wesen.
Fünf Jahre nachdem er durch den Flug ins Rampenlicht getreten war, lebten Lindbergh und seine Frau Anne zurückgezogen in einem Haus in New
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