Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
worden, wenige Stunden nachdem Charles Lindbergh seinen Sohn identifiziert hatte. Was ich hier in der Hand hielt - diese zehn kleinen Bruchstücke von Hand und Fuß -, hatte man aus zehn Körben voller Zweige und Blätter herausgesiebt, die man in den Tagen nach der Entdeckung der Leiche vom Waldboden zusammengeharkt hatte. Die Polizei hatte sich davon neue Indizien versprochen - eine Mordwaffe, Fingerabdrücke, irgendetwas, das auf den Entführer und den Ablauf des Verbrechens hinwies -, aber diese Hand voll kleiner Knochen lieferte so gut wie keine neuen Aufschlüsse.
50 Jahre später waren sie noch weniger aufschlussreich. Kinderskelette sind geschlechtslos: Ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt, lässt sich anhand der Knochen nicht feststellen; man kann nur die fraglichen Knochen vermessen und mit der Größe und dem Entwicklungsstadium anderer, bekannter Exemplare vergleichen. Zu diesem Zweck hatte ich die beiden maßgeblichen einschlägigen Nachschlagewerke mitgebracht: den Radiographic Atlas of Skeletal Development of the Foot and Ankle und den Begleitband Radiographic Atlas of Skeletal Development of the Hand and Wrist . In beiden sind die Ergebnisse eingehender Röntgenuntersuchungen an vielen hundert Kinderhänden und -füßen wiedergegeben. Glaubte man den Messergebnissen aus diesen Untersuchungen, waren die Hand- und Fußknochen in den Glasgefäßen geringfügig größer als die eines 18 Monate alten Jungen und geringfügig kleiner als die eines Jungen von zwei Jahren. In noch nicht einmal einer Stunde gelangte ich zu derselben Schlussfolgerung, die mein Lehrer Dr. Krogman schon fünf Jahre zuvor gezogen hatte: An den Knochen selbst sprach nichts gegen die Vorstellung, dass es sich um die letzten Überreste eines weißen, männlichen Kindes im Alter von 20 Monaten handelte. Eines 20 Monate alten weißen Jungen namens Charles Lindbergh, Jr.: der kleine Adler.
Als ich die Knochen wieder in ihre Glasbehälter gleiten ließ und die Korken festdrückte, fiel mir auf, wie wenig von diesem Kind übrig geblieben war - wie wenig noch an die glänzenden Aussichten erinnerte, an die großartige Zukunft, die vor Charles Lindbergh, Jr., gelegen hätte; an die Beziehung, die er vielleicht zu seinem berühmten Vater entwickelt hätte; an den Stolz, den der Senior empfunden hätte, wenn sein Sohn herangewachsen wäre und vielleicht auch selbst die Flügel ausgebreitet hätte, als Pilot von Flugzeugen oder sogar von Raumschiffen.
Ich selbst hatte 1982 drei gesunde Söhne von 26, 20 und 18 Jahren. Was es für Charles Lindberghs Seele bedeutet haben muss, seinen kleinen Sohn durch einen gewaltsamen Tod zu verlieren, konnte ich mir kaum ausmalen. Aber ich wusste, was es bedeutet, einen anderen geliebten Menschen durch einen gewalttätigen, vorzeitigen, sinnlosen Tod zu verlieren, und ich wusste auch, wie schnell so etwas gehen kann: Eine provisorisch gezimmerte Leiter in New Jersey bricht, und plötzlich wird aus einer Kindesentführung ein Mord. Oder der Zeigefinger eines intelligenten jungen Anwalts krümmt sich um den Abzug einer Waffe, und eine Kugel hinterlässt eine Blutspur im Leben ganz anderer Menschen. In meinem Leben.
Es geschah im März 1932 - durch einen schieren, aber seltsamen Zufall in dem gleichen Monat, als auch Bruno Hauptmann eine einfache Leiter mit einer tödlichen Schwachstelle zimmerte. Damals war ich dreieinhalb, doppelt so alt wie das Lindbergh-Baby. Marvin, mein Vater, arbeitete als aufstrebender junger Anwalt in der Kleinstadt Staunton in Virginia. Er war klug und sah gut aus; er hatte seine Jugendliebe Jennie geheiratet (die beiden waren 20 Jahre zuvor Maikönig und Maikönigin geworden), und vor ihm lag eine viel versprechende Zukunft in der Politik. Immerhin hatte er schon einmal für das Amt des Generalstaatsanwalts kandidiert; damals hatte er die Wahl zwar nicht gewonnen, aber er war auch erst 30 und würde noch genügend Gelegenheiten haben - das dachten jedenfalls alle.
Wir wohnten in einem zweistöckigen weißen Haus an der Lee Street, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Nebenan war eine Apfelplantage. Ich habe an jene Zeit nur wenige, unscharfe Erinnerungen, aber ein Bild von meinem Vater - oder eigentlich von meinem Vater und mir - steht mir kristallklar vor Augen: Wir fuhren an einem Sonntagmorgen mit unserem großen schwarzen Dodge in die Stadt, um eine Zeitung zu kaufen. (Mein Vater war in der Blütezeit des Ford-Modells T aufgewachsen, aber er hatte
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