Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
entmystifizieren. Letztlich aber geht es mir um eine Frage, die über das rein Biografische hinausreicht: Ist irgendwann in der Zukunft ein Ende des Krebses vorstellbar? Wird es möglich sein, diese Krankheit aus unserem Körper und unserer Gesellschaft endgültig auszumerzen?
Krebs ist nicht eine Krankheit, sondern viele Krankheiten. Wir sprechen kollektiv von »Krebs«, weil allen diesen Krankheiten ein Wesensmerkmal gemeinsam ist: das abnorme Wachstum von Zellen. Und über die biologischen Gemeinsamkeiten hinaus sind die verschiedenen Erscheinungsformen von Krebs von einschneidenden kulturellen und politischen Themen durchdrungen, weshalb es gerechtfertigt scheint, vereinheitlichend über »Krebs« zu schreiben. Da wir uns nicht mit den Geschichten jeder einzelnen Krebsvariante beschäftigen können, habe ich mich bemüht, die großen Themenbereiche herauszuarbeiten, die sich durch diese viertausendjährige Geschichte ziehen.
Dieses Vorhaben, das natürlich gewaltig ist, begann als ein viel bescheideneres Projekt: Im Sommer 2003, als fertiger Facharzt und mit eben abgeschlossener Dissertation auf dem Gebiet der Krebsimmunologie, begann ich mit einer Intensivfortbildung in Krebstherapie (medizinischer Onkologie) am Dana-Farber-Krebsinstitut und am Massachusetts General Hospital in Boston. Ursprünglich hatte ich einen Bericht über dieses Jahr schreiben wollen, sozusagen einen Bericht aus dem Schützengraben der Krebstherapie. Aber das Vorhaben wuchs sich rasch zu einer weitaus umfassenderen Forschungsreise aus, die mich nicht nur in die Tiefen der Wissenschaft und der Medizin, sondern auch in Kultur, Geschichte, Literatur und Politik, in die Vergangenheit und in die Zukunft des Krebses führte.
Im Epizentrum dieser Geschichte stehen zwei Personen – sie lebten zur selben Zeit, waren beide Idealisten, beide Kinder des gewaltigen Aufschwungs von Wissenschaft und Technik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den USA, und beide wurden vom Sog eines leidenschaftlichen, ja regelrecht besessenen Strebens mitgerissen: Sie wollten die Nation zum »Krieg gegen den Krebs« aufrütteln. Das ist zum einen Sidney Farber, der Vater der modernen Chemotherapie, der in einem Vitaminanalogon zufällig eine wirkungsvolle chemische Substanz zur Krebsbekämpfung entdeckte und von einem universalen Heilmittel gegen den Krebs zu träumen begann. Und das ist zum anderen Mary Lasker, eine einflussreiche Dame der feinen Manhattaner Gesellschaft, deren soziales und politisches Engagement legendär war: Sie schloss sich Farbers jahrzehntelanger Reise an. Aber Lasker und Farber sind nur zwei Beispiele für die Entschlossenheit, die Vorstellungskraft, den Erfindungsreichtum und Optimismus der Generationen von Männern und Frauen, die seit viertausend Jahren gegen den Krebs kämpfen. In gewisser Weise ist dies die Geschichte eines Kriegs – gegen einen Gegner, der gestaltlos, zeitlos und allgegenwärtig ist. Auch hier gibt es Siege und Niederlagen, Feldzüge über Feldzüge, Helden und Hybris, Überleben und Widerstand – und, zwangsläufig, die Verwundeten, die Verurteilten, die Vergessenen, die Toten. Letztlich erscheint Krebs tatsächlich, wie im neunzehnten Jahrhundert ein Chirurg im Vorwort zu einem Buch schrieb, als »der König aller Krankheiten«.
Ein Haftungsausschluss vorweg: In der Wissenschaft und der Medizin, wo der Vorrang einer ersten Entdeckung größte Bedeutung hat, wird das Gütesiegel des Erfinders oder Entdeckers von einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern und Forschern vergeben. In diesem Buch stehen zwar viele Geschichten von Entdeckungen und Erfindungen, aber einen rechtlichen Anspruch auf Vorrang begründet keine.
Diese Arbeit steht auf fremden Schultern: Sie stützt sich auf andere Bücher, Studien, medizinische Fachzeitschriften, Erinnerungen, Interviews; sie stützt sich auf zahlreiche Beiträge von Gesprächspartnern, auf Bibliotheken, Sammlungen, Archive und Aufsätze. Sämtliche Quellen, die hier benutzt wurden, und die Personen, denen ich zu danken habe, sind am Ende des Buches aufgeführt.
Ein Dank aber kann nicht bis zum Ende warten. Dieses Buch ist nicht nur eine Reise in die Vergangenheit des Krebses, sondern auch eine persönliche Reise – meine Entwicklung zum Onkologen. Sie wäre unmöglich gewesen ohne die Patienten, von denen ich mehr gelernt habe und lerne als von allen anderen. In ihrer Schuld stehe ich für immer.
Diese Schuld verpflichtet. Es versteht sich von selbst, dass bei den
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