Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, die Privatsphäre und Würde der Betroffenen gewahrt bleibt. Nur in Fällen, in denen die Erkrankung ohnehin öffentlich bekannt war (etwa durch frühere Interviews oder Artikel), nenne ich echte Namen. In Fällen aber, von denen die Öffentlichkeit nichts weiß, oder wenn meine Gesprächspartner um Diskretion baten, habe ich falsche Namen verwendet und Daten und Identitäten absichtlich durcheinandergebracht, um etwaige Anhaltspunkte oder Hinweise zu verschleiern. Dennoch sind es echte Patienten und wahre Begegnungen, und ich bitte alle meine Leser, Identitäten und Grenzen zu respektieren.
DER KÖNIG
ALLER KRANKHEITEN
PROLOG
Wenn die Krankheit verzweifelt ist, 1
kann ein verzweifelt Mittel
Nur helfen, oder keins.
William Shakespeare, Hamlet
Krebs beginnt und endet mit dem Menschen. 2
Diese eine elementare Tatsache wird bei aller
wissenschaftlichen Abstraktion zuweilen vergessen …
Ärzte behandeln Krankheiten, aber sie behandeln
auch Menschen, und diese Grundgegebenheit
ihrer beruflichen Existenz zieht sie manchmal
gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen.
June Goodfield
Am Morgen des 19. Mai 2004 wachte Carla Reed, eine dreißigjährige Vorschullehrerin aus Ipswich, Massachusetts, und Mutter dreier kleiner Kinder, mit Kopfschmerzen auf. »Das war nicht irgendein Kopfweh«, erinnerte sie sich später, »sondern ein betäubender Schmerz. Ein Gefühl, das einem auf der Stelle sagt, dass irgendwas ganz und gar nicht stimmt.«
Schon seit fast einem Monat stimmte etwas nicht mehr. Ende April hatte Carla blaue Flecken auf dem Rücken entdeckt. Sie waren eines Morgens plötzlich da, wie seltsame Stigmata, waren größer geworden und im Verlauf der nächsten Wochen allmählich wieder verblasst, hatten aber Spuren auf der Haut zurückgelassen, die an eine Landkarte erinnerten. Zuerst kaum bemerkt, war ihr Zahnfleisch allmählich heller und schließlich fast weiß geworden. Anfang Mai kam Carla, bis dahin eine lebenslustige, energiegeladene Frau, die es gewohnt war, stundenlang mit Fünf- und Sechsjährigen herumzutollen, kaum noch eine Treppe hinauf. An manchen Tagen konnte sie vor Erschöpfung morgens nicht aufstehen und kroch auf allen vieren durch den Flur von einem Zimmer ins andere. Sie schlief unruhig, zwölf bis vierzehn Stunden, war aber nach dem Aufwachen so erschlagen, dass sie sich zwischendurch immer wieder aufs Sofa legen musste, wo sie wieder einschlief.
Carla war in diesen vier Wochen in Begleitung ihres Mannes zwei Mal bei einer Allgemeinärztin und einer Krankenschwester gewesen, aber nie wurden irgendwelche weiterführenden Untersuchungen gemacht, nie eine Diagnose gestellt. In ihren Knochen traten geisterhafte Schmerzen auf und verschwanden wieder. Die Ärztin hatte keine rechte Erklärung dafür. Vielleicht Migräne, meinte sie und riet Carla zu Aspirin. Vom Aspirin fing Carlas weißes Zahnfleisch zu bluten an.
Die extrovertierte, gesellige und impulsive Carla fand diese Krankheit, die kam und ging, eher erstaunlich als beunruhigend. Sie war ihr Leben lang nie ernsthaft krank gewesen. Das Krankenhaus war ein abstrakter Ort für sie, nie hatte sie einen Facharzt aufgesucht, geschweige denn einen Onkologen. Als Erklärung ihrer Symptome malte sie sich die verschiedensten Ursachen aus – Überarbeitung, Depression, Verdauungsstörungen, Schlafstörungen. Aber irgendein Instinkt in ihr, eine Art sechster Sinn, sagte ihr schließlich, dass sich in ihrem Körper etwas Akutes und Katastrophales zusammenbraute.
Am Nachmittag des 19. Mai ließ Carla ihre drei Kinder in der Obhut einer Nachbarin zurück und fuhr noch einmal in die Praxis, und diesmal bestand sie auf einer Blutuntersuchung. Die Ärztin ordnete also ein Blutbild an. Als der Assistent das Blut abnahm, stutzte er: Das Blut, das aus Carlas Vene kam, war wässrig, blass und wirkte irgendwie verdünnt – es hatte wenig Ähnlichkeit mit normalem Blut.
Carla wartete auf das Ergebnis der Untersuchung, doch an diesem Tag hörte sie nichts mehr. Am nächsten Morgen fuhr sie zum Fischmarkt, und dort erhielt sie einen Anruf.
»Wir müssen Ihnen noch mal Blut abnehmen«, sagte die Sprechstundenhilfe ihrer Ärztin.
»Wann soll ich denn vorbeikommen?«, fragte Carla, in Gedanken schon hektisch bei der Organisation des Tages. Sie weiß noch, dass sie in dem Moment auf die Uhr an der Wand blickte. In ihrem Korb lag ein halbes Pfund Lachsfilet, das zu verderben drohte, wenn es nicht
Weitere Kostenlose Bücher