Weller
Prolog
Zorn war es, der ihn bei diesem Wetter aus dem Haus trieb, der ihn seit zwei Tagen keinen klaren Gedanken fassen ließ, ihn zu einem Bündel unzusammenhängender Impulse und Empfindungen machte, seinen Geist umnebelte. Er zog die Tür hinter sich zu, hob sie, ohne darüber nachzudenken, leicht an – sie klemmte immer, wenn es sehr feucht war – und war dabei in Gedanken schon ganz bei der bevorstehenden Begegnung mit seiner Peinigerin.
Er wusste, wo sie wohnte. Schließlich war er nicht dumm, auch wenn ihn viele behandelten, als ob das so wäre.
Ihre Wohnung lag in Wismar, in einer Straße, die ein braver Bürger eher mied, denn dort gab es, neben ganz normalen Leuten, auch das Rotlichtmilieu. Und die Neonazis. Mit denen hatte er jedoch keine Probleme.
Nach wenigen Schritten im Freien war seine Jacke durchnässt. Er nickte dem alten Mann zu, der nebenan auf seiner Fensterbank lehnte und rauchend in die düsteren Nachmittagswolken stierte. Das Auto der Post fuhr vorbei; heute saß der Blonde mit der Brille am Steuer.
Er erwartete keine Briefe, tat so, als hätte er das blonde Nicken nicht gesehen. Seine Faust umschloss in der Jackentasche das Glasfläschchen. Ein Zittern überfiel ihn bei dem Gedanken, was die darin enthaltene Flüssigkeit mit ihrem Gesicht machen würde. Mit diesem Gesicht, das erst so freundlich gelächelt, sich ihm zugewandt, Interesse gezeigt hatte. Noch nie hatte er jemandem, den er gerade erst kennen gelernt hatte, seine Bilder gezeigt – schon gar nicht einer Frau. Er hatte sich einlullen lassen, von der Stimmung jenes Abends, von ihren Fragen, aus denen ehrliche Neugier und nicht nur verlogene Höflichkeit zu sprechen schien.
Sie hatte ihn in sein Haus begleitet und vorgegeben, alles Mögliche von ihm wissen zu wollen. Ernsthaft und überhaupt nicht herablassend hatte sie gewirkt, so, wie sonst kaum jemand mit ihm redete.
Lange bevor er den Wismarer Hafen erreichte, hörte er die Möwen schreien. Ihre heiseren Rufe begleiteten ihn wie ein Echo von etwas anderem, längst Vergessenem. Noch immer fiel der Regen, als wolle er nie wieder aufhören. Auch seine Hose war längst durchnässt, das Leder der Schuhe vor Feuchtigkeit dunkel. Historische Giebel erhoben sich über ihm; er schritt gedankenleer an ihnen vorüber, registrierte lediglich die Hausnummern neben den Eingängen. Sein Atem ging gleichmäßig, sein auf die Fassaden gerichteter Blick begegnete niemandem. Bei der Nummer 13 hielt er an, sah zu den vom frühen Lampenschein erhellten Fenstern empor, lockerte den Griff um den kleinen Flachmann, der einmal Schnaps enthalten hatte.
Sein Zeigefinger drückte auf den Klingelknopf.
***
Die Sekunden verharrten im Regal zwischen den Aktenordnern, starrten mit lidlosem Blick auf die Besucherecke mit den beiden Stühlen, auf den überladenen Schreibtisch und das geschlossene Fenster, das den tosenden Verkehrslärm aussperrte. Von Zeit zu Zeit löste sich eine der Sekunden, tropfte hinab auf den Linoleumboden, verging mit einem unhörbaren Seufzer. Dann stand die Zeit wieder still. Andere Sekunden starben, ebenso lautlos, auf den ausdruckslosen Gesichtern der beiden Männer, die vis-à-vis an dem runden Tisch saßen.
Weller räusperte sich; sein Gegenüber …
So vielleicht würde ein Schriftsteller beginnen. Und das, was ich erlebt habe, taugt tatsächlich zu einem Roman. Doch ich bin kein Schriftsteller.
Ob ich ein zuverlässiger Erzähler bin? Können Sie meinen Worten Glauben schenken? Das müssen Sie selbst entscheiden. Natürlich sehe ich die Geschehnisse dieses Sommers von meiner Warte aus. Ich will versuchen, ehrlich zurückzublicken, auf das, was mir in quälend dahinfließenden, vorwiegend ereignislosen und doch so schreckensreichen Wochen und Monaten geschehen ist. Ich kenne meine eigenen Schritte, meine Fehler, und vor allem meine Hybris. Ja, vor allem sie!
Woher meine faktische Allwissenheit als Autor dieses Textes rührt? Nun, nachdem alles vorbei ist, weiß ich vieles, ahne manches, habe anderes gerüchteweise gehört. Und dann ist da meine vermaledeite Einfühlung, diese Gabe, auf der meine bisherigen Leistungen als Bewährungshelfer, das Vertrauen, welches mir meine Klienten entgegenbringen, fußten. Ob ich ihr jemals wieder trauen kann, vermag ich nicht zu beurteilen, hat sie doch zuletzt völlig versagt. Ein lebensgefährliches Versagen!
Ich habe Ellen versprochen, dies alles aufzuschreiben. Sie meint, nur so könne ich wieder zu mir selbst und letztlich
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