Der König auf Camelot
könnte man sagen: Es wäre schon viel gewonnen –
daran will Whites Merlin-Geschichte erinnern –, wenn die Menschen ihre
geschärfte Imagination wiedergewönnen, die sie einmal besessen haben. Dann
wären sie für solche Erfahrungen und Einsichten offen, wie Artur, von Merlin
dorthin versetzt, sie bei den Tieren macht. Das happy-end bei White ist ein
viermal gebrochenes happy-end, ist mehr eine schmale Hoffnung. Eines Tages,
wenn nicht nur England, sondern die Welt ihrer bedarf, werden Artur und Merlin
mit ihren gelehrten Freunden aus dem Hügel hervorkommen, und es wird wieder
Glück in dieser Welt geben und Ritterlichkeit. Und wenn es eine Tröstung bei
White gibt, so ist es eben jenes Empfinden, das der erschöpfte König hat, als
er auf das schlafende England blickt:
Plötzlich empfand er die starke traurige
Süße des Seins als Sein, jenseits von richtig oder falsch: daß die bloße
Tatsache des Seins das endgültig Richtige war. Er begann das Land unter sich
mit einer wilden Sehnsucht zu lieben, nicht weil es gut oder schlecht war,
sondern weil es war: wegen der Schatten der Getreidegarben an einem goldenen
Abend; weil die Schafschwänze beim Laufen zuckten und weil die Lämmer beim
Saugen ihre Schwänze in kleine Wirbel rollten; weil die grüngoldenen
Regenpfeiferschwärme, die auf den Weiden Würmer suchten, mit den Köpfen im Wind
gemeinsam ein Stück weiterstrebten…
KAPITEL 11
Im Wald von Broceliandebegnenet der uralte, aus der Zeit
gefallene Merlin dem Mädchen Niniane. Mit einem Zweig beschreibt er um sich und
die Geliebte einen Zauberkreis. Musik klingt auf, Tanzende sehen sie. Die Blumen
und Kräuter duften stärker. Die Sonne steigt höher am Himmel. Eine Hecke ist
aufgewachsen und verbirgt die Liebenden vor den neugierigen Augen der Welt.
Zauber des Spiels, Zauber der Liebe. Liebesspiel. Niniane verlangt von dem
uralten Geliebten, daß er ihr die Formel, die solchen Zauber bewirkt, verrate.
Merlin, voller Erwartung auf ihre Hingabe, geht auf die Bitte ein. Es ist ein
Tausch, aber kein Handel. Ihm fällt ihre Jugend zu, ihr die Weisheit seines
Alters. Nachdem sie miteinander geschlafen haben, legte Merlin seinen Kopf in
den Schoß der Geliebten. Fingerspitzen zeichnen die Rundungen ihrer Wangen,
ihre Lippen, ihre Brüste nach. So verschwimmt Wirklichkeit und Traum. Da steht
sie auf, murmelt neunmal das Zauberwort. Jetzt ist der Zauber unauflösbar. Sie
setzt sich wieder, bettet den Kopf des Träumers auf ihre Schenkel. Merlin
erwacht. Es ist ihm, als liege er auf einem Lager in einem hohen Turm. Dann
begreift er, was geschehen ist. Er sagt zu Niniane:
»Du hast mich betrogen, wenn du jetzt
nicht immer bei mir bleibst, denn niemand außer dir kann mich aus diesem Turm
ziehen.«
»Mein zärtlicher Freund,« antwortet sie,
»ich werde oft in deinen Armen sein.«
Und das Mädchen hält sein Versprechen. Nur
wenige Tage und Nächte vergehen, da sie nicht bei ihm ist. Merlin kann sich
nicht von der Stelle rühren. Sie aber kommt und geht, wie es ihr gefällt. Jetzt
ist sie bereit, ihm die Freiheit wiederzugeben, denn es stimmt sie traurig, ihn
so gefangen zu sehen. Aber mit der Bereitschaft ist es nicht getan. Der Zauber
ist zu stark. Sie vermag ihn nicht zu lösen. Eines Tages kommt Gawain, einer
der Ritter der Tafelrunde, in den Zauberwald geritten und hört Merlins Stimme
aus der Hecke. »Wo seid Ihr, Merlin?« fragt Gawain. »Du wirst mich nie mehr
sehen, und nach dir werde ich nie mehr zu einem Menschen sprechen. Nie wirst du
hierher zurückkehren. Nie kann ich von hier fort.« »Aber wie das?« wundert sich
der Ritter, »wie kannst du, der du so weise bist, an einen Ort geraten, von dem
du nie mehr davonkommst?«
»Auch der Weiseste wird zum größten Toren
in der Liebe«, antwortet Merlin, »wahrlich, ich liebte eine Frau mehr als mich
selbst. Ich lehrte die Liebste, wie sie mich fesseln könne. Jetzt kann ich mich
nicht mehr befreien, und auch sie kann es nicht.«
Merlins Verzauberung in der Weißdornhecke
bedeutet nicht seinen Tod. Die Metapher verweist auf die Aufhebung der
Herrschaft des einen Geschlechts über das andere. Merlin und Niniane –
poetische Umschreibung für den Traum, das Abgetrenntsein vom anderen in der
Liebe zu überwinden. Traumchiffre auch für die Bedingung, unter der der Mensch
lebt – seine Unvollkommenheit.
Über
T. H.
White
Terence Hanbury White wurde am
29. Mai 1906 in Bombay
geboren. Er starb am 17. Januar 1964 an Bord der
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