Der König von Havanna
was ist in dich gefahren?«
»Warte, warte, immer mit der Ruhe. Ich versuche nur, dir zu helfen.«
»Du versuchst mir zu helfen? Einfach so umsonst, weil du ein guter Mensch bist? … Mit diesem Fickgesicht, das du hast … Hör auf, mich zu verarschen, Kamerad!«
»Warte, Kumpel … Sieh mal, hör mir zu. Ich war sechs Monate in Finnland mit so ’ner Alten von dort zusammen, aus der Hauptstadt, und es war ’ne Mordsgaudi. Verdammte Kälte und Schnee, du machst dir keine Vorstellung, außerdem verstand ich kein Wort von der Sprache, aber man lebt dort … jeder lebt dort wie ein König.«
»Und warum bist du dann zurückgekommen?«
»Ach, ich hatte ein paar Scherereien mit der Polizei, und dann … ach, nichts, na, jedenfalls ist alles vorbei. Man muss sich schützen, Rey, jetzt bin ich mit einer Norwegerin zusammen. Im Februar kommt sie, um mich zu heiraten, und ciao, weg bin ich.«
»Wohin?«
»Norwegen.«
»Wo ist denn das?«
»Am Arsch der Welt. Sie sagt, es sei so wie Finnland, mit Eiseskälte und Schnee und einer merkwürdigen Sprache, derselbe Scheiß, aber diesmal werde ich verheiratet sein, ganz legal, und dann kriegen mich keine zehn Pferde mehr hierher zurück.«
»Viel Glück.«
»Ja, aber ich sage dir, diese Kleine da von mir hat zwei, drei Freundinnen. Wenn sie hier sind, stelle ich dich vor, damit du dich an sie ranmachen und auch abhauen kannst. Dann schicken wir Katia einen Norweger rüber. Komm schon, versteh mich doch, das hier ist Rette-sich-wer-kann, aber wenn ich dir und meiner Schwester helfen kann …«
»Nein, nein, rechne nicht mit mir. Ich habe Angst vorm Fliegen, und ich bin noch nie aus Havanna herausgekommen. Und es fehlt mir auch nichts. Mein Leben spielt hier.«
»Sei nicht dumm, Rey. Du bist jung und hast einen Schwanz, der dir die Tore der Welt öffnet, glaub mir.«
»Na, na. Hör schon auf. Ich hau jetzt ab.«
»Ach, du wirst dein Leben lang ein Hungerleider bleiben.«
»Ich bin daran gewöhnt zu kämpfen, Kumpel, und verhungert bin ich auch noch nicht. Sag Katia, dass ich gegangen bin. Ich komme später wieder her.«
Cheo blieb auf dem Bordstein sitzen und dachte, dass dieser Kerl ein echter Idiot war. Er ging wieder zurück ins Haus und sagte zu Katia: »Hör zu, vergiss diesen Hungerleider. Wer als Kleinkrämer geboren wird, kommt nie zu was.«
Rey war verängstigt. Er kaufte ein paar Brötchen mit Fleischkroketten, Limonade, Gebäck. Er schlug sich den Wanst voll und nahm wieder seine gewohnte Route auf. Er ging aus Regla raus, ließ die Silos hinter sich, spazierte in der milden Januarsonne weiter und kam zum Container. Zu viele Probleme wirbelten in seinem Kopf herum: die Polizei, Magda, dass Yamilé und Sandra möglicherweise singen würden. Er war erschöpft und hatte Kopfschmerzen von der Nacht zuvor. »Wenn man’s genau bedenkt, habe ich ohne viel Arbeit einen Haufen Dollars eingesackt«, dachte er und schlief ein. Tief und fest schlief er zwanzig Stunden am Stück durch. Nichts störte ihn. Als er am nächsten Tag erwachte, war es Mittag, und er hatte schrecklichen Hunger. Er beherrschte sich, er wusste, wie. »Kümmer dich nicht um den Hunger, denn es gibt eh nichts zu essen.« Diesen Satz seiner Mutter sagte er sich mechanisch immer wieder vor, und der Hunger verschwand. Es war wie ein bedingter Reflex. So einfach. Er schlummerte ein wenig weiter. Aus Trägheit. Aus reiner Trägheit. Dabei wusste er, dass er los musste. Nach Regla, um Katia zu holen. Oder nach Havanna, um Magda zu holen. Was tun? Er hasste es, Entscheidungen zu treffen. Nie dachte er in Begriffen wie Koordination, Präzision, Methode, Hartnäckigkeit, Anstrengung. In der Ferne bellten einige Hunde, viele Hunde, die gleichzeitig bellten. Sein Geist schweifte träge dorthin. Eine ganze Zeit lang hörte er den Hunden zu. Dann fiel ihm auf, dass außerdem ein paar Hähne krähten, ein Lastwagen vorüberbrummte und dass, noch näher bei, der Wind über die Gräser strich und sie rascheln ließ. Nichts davon interessierte ihn. Was interessierte ihn? Nichts. Gar nichts interessierte ihn. Alles erschien ihm unnütz. Und er schlief wieder ein. Seelenruhig.
Es dämmerte, als er erwachte. Der Hunger war jetzt so groß, dass er ihn nicht spürte. Aus Stumpfheit brach er auf nach Havanna. Ohne zu denken. Er war mager und abgezehrt. In seiner Tasche hatte er Geld, doch er erinnerte sich nicht einmal daran. Er ging am Jesús-María-Viertel vorbei zum Maceo-Park. Es war sehr spät. Er erwartete
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