Der Kopflohn
»Was, was?« – »Nichts, Kößlin.«
Sie liefen über die Eisenbahnbrücke. Johann drehte sich nach dem Wirtshaus um. Die Tische waren leer unter den braunen Platanen. Sie kamen in die Anlage. Die Rasen waren noch grün, in den behüteten Beeten standen noch Dahlien in allen Farben. Kößlin trennte sich von Johann und ging in eins der weißen Häuser, in welchem Breideis wohnte. Johann ging über den Marktplatz zu Kastrizius.
III
Hufeisenförmig waren die Tische auf der Wiese aufgestellt, die an Merzens Garten stieß. Später sagten die Leute oft, der alte Merz hätte sich bei dieser Hochzeit übernommen. Selbst der junge Merz sagte so, später, als ihn das Erbe drückte. Der alte Merz hatte sich nicht übernommen, denn wie kann man sich überhaupt bei etwas übernommen haben, das einem noch in der Todesstunde als goldner Funken durchs Gehirn jagt? Der alte Merz starb nämlich nicht nach fünf Jahren, wie er sich selbst bei dem Naphtel veranschlagt hatte, sondern viel früher, im Sommer des folgenden Jahres. Vielleicht weil er den Keim des Todes in sich fühlte, nicht drückend, sondern sein Inneres erweiternd, brauchte er ein Fest, bei dem die Klammern aufsprangen, die den Verstand im Kopf zusammenhielten, das geizige Herz in der Brust, die Gittertüren des Kellers, das Guttapercha auf den Einmachtöpfen, das Fleisch im Rauchfang. Seine Kinder waren ihm bei diesem Fest ebenso wert und gleichgültig wie alle Gäste, mochten sie nun Myrten ins Knopfloch gesteckt oderum den Kopf gedreht haben. Als Vorbild schwebte ihm seine eigne Hochzeit mit Babette Andernach vor, die jetzt neben ihm saß, klein, dick, in sich selbst hineingerutscht. Da er möglichst viele hatte einladen wollen, alle, die in der Umgegend ein Ansehen hatten, war er damit einverstanden gewesen, daß sein Sohn den Gärtner Kunkel eingeladen hatte, den Müller aus Beuren, den Sturmführer Zillich. Der junge Merz war selbst nach Botzenbach gegangen, er hatte dabei dem Zillich in die Hand versprochen, einzutreten, sobald die Hochzeit vorüber war.
Als der Brautzug aus der Kirche kam und die Musikanten im Garten abbrachen und in die Stille hinein beim Anblick des mächtigen Hufeisentisches die Gäste »Ah« machten, war der alte Merz glücklich. Die beiden Brautpaare setzten sich in die Mitte der äußeren Krümmung. Luise, stolz und prächtig wie nie, sah sich ruhig rundum. Sophie hatte gar kein Gesicht. Auf dem weißen dünnen Blatt, das von so viel Schleiern umgeben war, lagen die Schatten ihrer Wimpern. Manche Verwandte hatten Kinder mitgebracht, die zwischen den Eltern eingeklemmt oder auf ihren Knien saßen. Noch bevor es etwas zu essen gab, hatten die Kinder verklebte Mäuler und Fäuste. Der alte Merz sprach das Gebet. Er versuchte seinen Bart starr zu halten, obwohl sein glückliches Herz hineinzuckte. Die Suppenkübel wurden gebracht und ausgeschenkt. In der Suppe waren Nudeln, Klöße und winzige Spitzchen Petersilie. Der alte Merz und seine Frau sahen sich nach dem ersten Löffel Suppe froh an. Luise Merz, die jetzt Luise Rifke hieß, aß ruhig und viel wie immer. Auch der Lehrer aß viel. Er hatte die letzten Wochen mehr und mehr Bedenken gegen diese Heirat gehabt. Jetzt aber, als er die Nudeln aus den Mundwinkeln mit der Zunge fischte, als die Musik im Garten wieder zu spielen anfing, als die Magd mit dem großen Brett kam, mit Schüsseln voll Röstkartoffeln, Salat, Gemüsen und Gurken, die alle nur die Vorboten des Bratens waren, als er Luise betrachtete,die wirklich schön aussah, da war er einverstanden, vor allem auch, weil man jetzt nichts mehr ändern konnte. Sophie aß nichts. Der junge Merz flüsterte ihr zu: »Iß!« Sophie bewegte schnell die Lippen, ohne den Löffel hochzuheben. Während er mit der einen Hand aß, legte ihr der junge Merz die andre Hand aufs Knie. Sophie öffnete jetzt die Augen. Sie erblickte den Kranz von Gesichtern, der um sie herumgeschlungen war, mit von Klößen geblähten Backen, aus den Mundwinkeln hängenden Nudeln, mit fettigen Nasenspitzen. Sie erblickte auch die Gesichter ihres Vaters und ihrer Mutter, die sie längst vergessen hatten und die in die Suppe vertieft waren. Niklas und seine Braut Johanna, die zu Weihnachten heiraten wollten, hielten sich unter dem Tisch gefaßt und löffelten eins mit der rechten und eins mit der linken Hand, ohne sich um den Spott zu kümmern. Sie sahen friedlich aus. Ein kleines Kind schlug mit dem Löffel in die Suppe, bekam einen Klaps und heulte. Der Müller aus
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