Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
an diesem denkwürdigen Tag geschah, in sich aufnehmen. Henry Luce sollte für das Time-Magazin einen ergreifenden Artikel bekommen, aber nicht nur darum ging es ihm. Er machte sich Sorgen wegen all der Menschen, ein möglicherweise explosives Gemisch aus unterschiedlichen Religionen. Manche Besucher brachten ihre Trauer in den Farben der Gewänder zum Ausdruck, andere durch gellende Schreie. Es könne aber auch der eine oder andere versucht sein sich einer Bombe zu bedienen, hatte Lord Louis besorgt angemerkt und empfohlen, sich im Falle etwaiger Unruhen sofort flach auf den Boden zu werfen und dem Militär die Arbeit zu überlassen. David hoffte, dass es an diesem Feiertag nicht dazu kommen würde.
Der Scheiterhaufen war ein gewaltiger Stapel aus kostbarem Sandelholz. Daneben standen Pujaris, heilige Männer in orangefarbenen Gewändern, und psalmodierten vedische Gebete. Vor ihnen verhielt der Trauerzug. Keine peinlichen Drängler störten die Zeremonie. Einige Gäste standen unentschlossen herum, andere machten es sich bald auf der Erde bequem – Stühle waren in der erforderlichen Menge nicht aufzutreiben gewesen, also hatte man gleich ganz auf sie verzichtet. In der Nähe ragten große Holztürme auf, bevölkert von einer bunten Vogelschar aus Journalisten, die ungeduldig ihre Mikrofone und Kopfhörer zurechtrückten und die Kameras entsicherten. Nichts von dem nun Folgenden durfte verpasst werden. Die Welt wollte den Mahatma brennen sehen.
»Wer wird den Scheiterhaufen entzünden?«, wagte David seinen trauernden Freund erneut zu fragen.
Balu reagierte erst beim zweiten Nachhaken. »Devadas.«
»Ist das nicht eigentlich die Pflicht des Erstgeborenen?«
»Ja, Sahib.«
»Und warum tut er’s nicht?«
»Zu gefährlich, Sahib«, knurrte Balu in verächtlichem Ton.
David runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht.«
»Haribal würde vermutlich explodieren, wenn er das brennende Holzscheit in die Hand nähme.«
»Unsinn.«
»Er ist ein Säufer, er hat Vater und Mutter entehrt. Schon bei Kasturbas Bestattung war er nicht zugegen und heute liegt er wahrscheinlich wieder in einer Ecke und schläft seinen Rausch aus. Devadas ist da ganz anders. Er…«
Balus Stimme ging in einem ungeheuren Geschrei unter. David wandte den Kopf dem Wagen mit Gandhis Leichnam zu. Gerade konnte er noch Nehrus weiße Kappe sehen, rund um den Premierminister spielten sich tumultartige Szenen ab. Irgendwie gelang es den Weggefährten des Verstorbenen dann aber doch, die Bahre sicher herunterzuheben. Neben Jawaharlal Nehru fassten auch Patel und sogar Ghaffar Khan mit an, der als Führer der moslemischen Pathanen mit seinem beherzten Einsatz nicht nur der eigenen Trauer um den Propheten der Gewaltlosigkeit Ausdruck verlieh, sondern zugleich ein Zeichen der Versöhnung an alle Hindus und Moslems setzte.
Dank seines hohen Wuchses konnte David gut mitverfolgen, wie nun Gandhis steifer Leichnam rasch auf den Scheiterhaufen gebettet und sein von dem weißen Leichentuch befreiter Oberkörper mit Blumen bedeckt wurde. Nur noch sein kahler, in der Sonne glänzender Kopf war jetzt zu sehen, schützend umfangen von Nehrus Händen.
Nachdem der indische Premierminister von seinem engsten Gefährten Abschied genommen und sich zu den anderen hohen Trauergästen begeben hatte, begann die eigentliche Zeremonie. Devadas, Gandhis Jüngster, schritt siebenmal um den Scheiterhaufen und entbot der sterblichen Hülle des Vaters ebenso oft seinen Gruß. Nachdem er heiliges Wasser über den Körper des Mahatma gesprengt hatte, legte er zu dessen Füßen ein Stück Sandelholz ab. Darauf nahm er von einem der Priester eine brennende Fackel entgegen.
»Ram, Ram!«, drang es aus Devadas Kehle. »Ram, Ram…«
Während Gandhis jüngerer Sohn seinen Gott anrief, wanderten die Gesichter all jener an Davids innerem Auge vorbei, die der Kreis der Dämmerung ihm schon genommen hatte – bis hin zu Rebekka. Und nun hatten sich die Verschwörer also auch jenes Mannes entledigt, dessen Lehren so ganz und gar ihren finsteren Plänen entgegenstanden. Für David gab es keinen Zweifel, wer hinter dem jüngsten Attentat steckte. Aber konnte er Nathuram Godse vertrauen? Gelogen hatte Gandhis Mörder wohl nicht, allerdings – wusste der Schwanz des Drachen immer, wo sich sein Kopf befand?
Amritsar. Die heilige Stadt der Sikhs im Nordwesten Indiens. Was konnte Raja Mehta, einen Sohn Mohammeds, dorthin verschlagen haben? In jüngster Vergangenheit hatten die Moslems
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