Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
zu lachen oder auch nur zu lächeln. Aus ihm war, wie es Balu auszudrücken pflegte, ein »weißer Wolf« geworden, der auf seiner unerbittlichen Jagd die Einsamkeit suchte und neue Bekanntschaften scheute, weil er sich nicht mehr für fähig hielt zu lieben. Unerträglich war ihm der Gedanke, ein neuer Freund könnte bald ein Toter mehr sein in der langen Liste jener, die der Kreis der Dämmerung ihm schon geraubt hatte. In Anbetracht dessen hatte Abhitha ein kleines Wunder vollbracht. David fühlte sich für sie verantwortlich.
Als Henry Luce ihn vor vielen Monaten nach Nürnberg geschickt hatte, war das alles noch anders gewesen. Nicht die Verpflichtung gegenüber einem alten Freund hatte den Ausschlag für Davids Zusage gegeben, sondern eine offene Rechnung, die es noch zu begleichen galt. In New York hatte David dem Time-Herausgeber erklärt, er werde zukünftig nur noch als freier Mitarbeiter für das Magazin tätig sein. Unter wechselnden Pseudonymen. Den Ruhm für seine Reportagen könnten getrost andere einstreichen.
Die Rückkehr nach Deutschland war dann für David eine beklemmende Erfahrung geworden. Hier hatte man ihm Rebekka entrissen, sie verschleppt, womöglich gefoltert… Jetzt wirkte das Land auf ihn sonderbar fremd, wie eine in falschen Farben gehaltene Fotografie. Er wusste noch genau von der glühenden Verehrung für Adolf Hitler, damals klar an den leuchtenden Augen nur allzu vieler Deutscher abzulesen, erinnerte sich der Hingabe, mit der sie die Wünsche ihres »Führers« erfüllt hatten, wenn sie auch noch so unmenschlich waren. Und schlagartig sollte es nun keine Nazis mehr geben…?
Den Anklägern in den Nürnberger Prozessen war dieser Widerspruch nicht entgangen und sie mühten sich redlich, wenigstens jene Hauptkriegsverbrecher zu verurteilen, die für die nationalsozialistischen Verbrechen federführend zeichneten. Während der Verhandlungen wurde auffällig oft der Name eines Mannes genannt, der nicht auf der Anklagebank saß, weil man seiner bisher nicht hatte habhaft werden können: Adolf Eichmann, David erinnerte sich sofort. In seinem wiederhergestellten Schattenarchiv gab es ein Dossier über diesen Mann, Obersturmbannführer Eichmann hatte das Protokoll geführt, als auf einer Konferenz in der Dienststelle der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission in Berlin-Wannsee unter Leitung von Reinhard Heydrich am 20. Januar 1942 die Tötung von elf Millionen Juden geplant worden war. Mit deutscher Gründlichkeit. Als Leiter des Referats »Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten« war Eichmann für die Organisation des Abtransports der europäischen Juden in die Vernichtungslager verantwortlich. Der Technokrat des Bösen hatte seine Arbeit sehr gewissenhaft verrichtet und damit immerhin sechs Millionen Menschen in den Tod geschickt.
Als David Mitte März 1946 in Nürnberg eintraf, wurde gerade Hermann Göring verhört. In einem großen holzgetäfelten Gerichtssaal saßen die internationale Schar der Ankläger, Richter, Verteidiger sowie die deutschen Angeklagten und zeigten ernste Mienen. Alle trugen schwarze Kopfhörer zum Mitverfolgen der Simultanübersetzung. Überall standen kaum weniger ernste Militärpolizisten mit weißen Helmen herum. Göring trat für sich selbst in den Zeugenstand und rechtfertigte in beschämender Weise Hitlers Taktik der »verbrannten Erde«: Durch die moderne Kriegsführung sei die Genfer Konvention überholt. Irgendwie wollten aber die vier Richter und deren Stellvertreter den Darlegungen von Hitlers Reichsmarschall nicht recht folgen, weshalb sie ihn dennoch dem Strick anbefahlen. Der empörte Göring verlangte aber nach der Kugel. Als man ihm auch die verweigerte, nahm der Eigensinnige Gift.
Die übrigen elf Todesurteile wurden schließlich am 16. Oktober vollstreckt. David war aber nicht bereitwillig nach Deutschland zurückgekehrt, nur weil er die Verantwortlichen für Rebekkas Tod der gerechten Strafe überantwortet sehen wollte. Ein Name auf der Liste der als Hauptkriegsverbrecher Angeklagten hatte den Ausschlag gegeben: Franz von Papen.
Während der Verhandlungen, denen David als Prozessbeobachter für Time beiwohnte, hing sein Blick ständig an diesem einen Mann. Und dabei machte er eine verwirrende Entdeckung. Hitlers ehemaliger Vizekanzler trug den Siegelring nicht mehr. Das widersprach allen bisherigen Erfahrungen Davids mit den Logenbrüdern Belials. Er wusste nicht viel über das unheimliche Band, das den Schattenlord und
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