Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
ist eine Seite oder eine halbe Seite in dem Buch, an dem ich schreibe.
Texte, Texte, Texte. Überall Texte. In Wohnungen und in Dorfhütten, auf der Straße und im Zug. Ich höre zu. Ich werde allmählich zu einem einzigen großen Ohr, das die ganze Zeit einem anderen Menschen zugewandt ist. Ich »lese« Stimmen ...
***
Der Mensch ist größer als der Krieg – im Gedächtnis bleibt, wo er größer ist. In solchen Momenten lässt er sich von etwas leiten, das stärker ist als die Geschichte. Ich muss den Bogen weiter spannen – nicht nur die Wahrheit über den Krieg, sondern die Wahrheit über Leben und Tod allgemein. Die Anziehungskraft des Bösen ist unbestritten, uns faszinieren die tief verborgenen Potenzen des Unmenschlichen im Menschen. Schon immer hat mich interessiert, wie viel Mensch im Menschen steckt, und wie man diesen Menschen in sich bewahren kann. Aber warum dann das Interesse am Bösen? Vielleicht, um zu erfahren, welche Gefahren uns drohen? Wie man sich davor schützen kann? Ich dringe immer tiefer ein in die endlose Welt des Krieges, alles andere verblasst dagegen, wird alltäglicher. Es ist eine mächtige, eindrucksvolle Welt. Nun verstehe ich die Einsamkeit von Menschen, die von dort zurückgekehrt sind. Wie von einem anderen Stern oder aus dem Jenseits. Sie haben ein Wissen, das andere nicht haben und das man nur dort erlangen kann, in der Nähe des Todes. Wenn solche Menschen versuchen, etwas mit Worten wiederzugeben, haben sie das Gefühl einer Katastrophe. Sie werden stumm. Sie wollen erzählen, und die anderen möchten gern verstehen, aber alle sind machtlos. Davor habe ich Angst.
Sie sind immer in einem anderen Raum als ihre Zuhörerin. Sie sind von einer unsichtbaren Welt umgeben. Wir sind immer mindestens zu dritt: Diejenige, die heute erzählt, der Mensch von damals, der das alles erlebt hat, und ich. Mir geht es vor allem darum, die Wahrheit jener Jahre zu erfahren. Jener Tage. Ohne verfälschende Gefühle. Gleich nach dem Krieg hätte dieser Mensch vermutlich einen anderen Krieg erzählt als Jahrzehnte später, denn in seinen Erinnerungen summiert er sein ganzes Leben. Sich selbst. Wie er in diesen Jahren gelebt und was er gelesen hat, wem er begegnet ist. Und ob er glücklich ist oder nicht. Ob wir unter vier Augen miteinander reden oder ob noch jemand dabei ist. Wenn ja – wer? Familie? Freunde – was für welche? Frontkameraden sind eines, alle anderen etwas anderes. Dokumente sind lebende Wesen, sie verändern sich mit uns, aus ihnen lässt sich unendlich viel gewinnen. Immer wieder Neues und etwas, das wir gerade jetzt brauchen. In diesem Augenblick. Wonach suchen wir? Meist nicht nach Heldentaten und Heldentum, sondern nach dem Kleinen, Menschlichen, das uns am vertrautesten ist und uns am meisten interessiert. Was würde ich zum Beispiel am meisten wissen wollen über das Leben im alten Griechenland ... Über die Geschichte Spartas ... Ich würde gern lesen, wie und worüber die Menschen damals zu Hause redeten. Wie sie in den Krieg zogen. Welche Worte sie am letzten Tag oder in der letzten Nacht vor dem Abschied mit ihren Lieben sagten. Wie die Krieger verabschiedet wurden. Wie auf sie gewartet wurde ... Nicht auf die Helden und Heerführer, sondern auf die gewöhnlichen jungen Männer ...
Geschichte, erzählt von einem von niemandem bemerkten Zeugen und Beteiligten. Ja, das interessiert mich, das würde ich gern zu Literatur machen. Aber die Erzähler sind nicht nur Augenzeugen, das am wenigsten, sie sind Handelnde und Schöpfer. Man kann sich der Wirklichkeit nicht unmittelbar nähern, Auge in Auge. Zwischen uns und der Realität stehen unsere Gefühle. Ich treffe auf Versionen, jeder hat seine eigene Version, und daraus, aus ihrer Menge und ihren Überschneidungen, entsteht ein Bild der Zeit und der Menschen, die darin lebten. Ich möchte nicht, dass es über mein Buch heißt: Ihre Helden sind real, und mehr nicht. Das sei Geschichte. Nicht mehr als Geschichte.
Ich schreibe nicht über den Krieg, sondern über den Menschen im Krieg. Ich schreibe keine Geschichte des Krieges, sondern eine Geschichte der Gefühle. Einerseits erforsche ich den individuellen, konkreten Menschen, der in einer konkreten Zeit gelebt hat und von konkreten Erlebnissen erzählt, und andererseits ist es mir wichtig, in ihm den ewigen Menschen zu finden. Das zu entdecken, was der Mensch immer in sich trägt.
Ich bekomme zu hören: Erinnerungen sind doch keine Geschichte. Und keine Literatur.
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