Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
werden dir was vorschwindeln. Was zusammenfantasieren.« Aber ich habe mich überzeugt: So etwas kann man sich nicht ausdenken. Nicht irgendwo abschreiben. So etwas kann man nur vom Leben »abschreiben«, nur das Leben hat eine solche Fantasie.
Doch worüber die Frauen auch sprechen, immer ist der Gedanke präsent: Krieg, das ist vor allem Töten und – schwere Arbeit. Und auch – ganz normales Leben: Sie haben gesungen, sich verliebt, sich die Haare frisiert ...
Aber das Wesentliche ist: Wie unerträglich es ist, zu töten, denn eine Frau gibt Leben. Trägt es lange in sich, zieht es groß. Ich begriff, dass es Frauen schwerer fällt zu töten.
***
Männer lassen die Frauen nur ungern in ihre Welt, auf ihr Terrain.
Im Minsker Traktorenwerk suchte ich eine Frau, die Scharfschützin gewesen war. Eine berühmte Scharfschützin. Über sie wurde mehrfach in Frontzeitungen berichtet. Freundinnen in Moskau hatten mir ihre Telefonnummer gegeben, aber sie stimmte nicht mehr. Ich ging in die Personalabteilung, und dort bekam ich von Männern (dem Werkdirektor und dem Personalchef) zu hören: »Gibt es denn nicht genug Männer? Was wollen Sie mit den Frauen? Sich Frauenfantasien anhören, Frauengeschichten?« Die Männer befürchteten, die Frauen könnten »einen falschen Krieg erzählen«.
Ich kam in eine Familie, Mann und Frau waren an der Front gewesen. Dort hatten sie sich kennengelernt und geheiratet. »Unsere Hochzeit haben wir im Schützengraben gefeiert, mein weißes Kleid hab ich mir aus Mull genäht.« Er war MG -Schütze, sie Nachrichtensoldatin. Der Mann schickte seine Frau sofort in die Küche: »Mach mal was zu essen.« Auf meine nachdrückliche Bitte hin überließ er ihr das Feld mit den Worten: »Erzähl so, wie ich es dir beigebracht hab. Ohne Tränen und den ganzen Frauenkleinkram: Ich wollte schön sein, hab geweint, als mir der Zopf abgeschnitten wurde.« Die Frau gestand mir: »Er hat die ganze Nacht mit mir das Buch Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges studiert. Aus Angst. Auch jetzt macht er sich Sorgen, dass ich was Falsches erzählen könnte.«
So war es mehrfach, nicht nur in einem Haus.
Ja, sie weinen viel. Schreien. Wenn ich weg bin, nehmen sie Herztabletten. Rufen den Notarzt. Trotzdem bitten sie: »Komm her. Komm unbedingt. Wir haben so lange geschwiegen. Vierzig Jahre geschwiegen ...«
Ich weiß, Weinen und Schreien darf man nicht bearbeiten, sonst wird die Bearbeitung wichtiger als das Weinen und Schreien. Dann bleibt statt Leben Literatur. So ist der Stoff nun einmal beschaffen: Am deutlichsten zeigt, am meisten offenbart sich der Mensch im Krieg und vielleicht noch in der Liebe. Bis in die Tiefe, bis ins Mark. Angesichts des Todes verblassen alle Ideen, offenbart sich die unbegreifliche Ewigkeit, auf die niemand vorbereitet ist. Darüber schweigen wir normalerweise. Wir leben noch in der Geschichte, nicht im Kosmos. Mehrfach bekam ich Texte, die ich an die Erzählerinnen geschickt hatte, zurück mit der Bemerkung: »Schreiben Sie nicht über die Kleinigkeiten – schreiben Sie über den Sieg ...« Aber gerade die »Kleinigkeiten« sind für mich das Wichtigste – das Menschliche: der Haarschopf, der vom Zopf übrig blieb, der Kessel voll Grütze, die niemand aß, weil von hundert Leuten nur sieben aus dem Gefecht zurückkehrten, oder dass eine Frau nach dem Krieg die Fleischstände auf dem Markt nicht ertragen konnte ... Nichts Rotes ... Nicht einmal roten Batist ... »Ach, meine Gute, das ist schon vierzig Jahre her, aber in meinem Haus findest du nichts Rotes. Seit dem Krieg hasse ich Rot!«
***
Ich lausche ihrem Schmerz ... Der Schmerz ist wie ein Beweis des vergangenen Lebens. Andere Beweise gibt es nicht, anderen Beweisen vertraue ich nicht. Worte haben uns schon oft von der Wahrheit weggeführt.
Ich betrachte das Leiden als höchste Form der Information, die direkt mit dem Mysterium zusammenhängt. Mit dem Mysterium des Lebens. Die ganze russische Literatur handelt davon. Über das Leiden hat sie mehr geschrieben als über die Liebe.
Und davon wird mir mehr erzählt ...
***
Sind sie Russen oder Sowjetmenschen? Nein, sie waren sowjetische Menschen – Russen, Weißrussen, Ukrainer, Tadschiken usw.
Es hat ihn trotz allem gegeben, den Sowjetmenschen. Er hatte seine eigenen Opfer und Märtyrer, schuf seine eigenen Ideale und Werte. Ich glaube, solche Menschen wird es nie mehr geben. Selbst wir, ihre Kinder, sind bereits anders. Wir möchten gern sein wie alle.
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