Der Kuss des Greifen (German Edition)
1
»Natürlich bin ich schlecht«, sagte die Vampyrzauberin Carling Severan mit abwesend klingender Stimme. »Das ist eine Tatsache, mit der ich mich vor vielen Jahrhunderten abgefunden habe. Alles, was ich tue, selbst eine noch so großzügig wirkende Geste, richte ich danach aus, wie es mir nutzen könnte.«
Carling saß in ihrem Lieblingssessel vor einem großen Fenster. Das butterweiche Leder des Sessels hatte sich schon vor langer Zeit den Konturen ihres Körpers angepasst. Vor dem Fenster lag ein üppig bewachsener, gepflegter Garten, eingetaucht in die zarten Farben der mondbeschienenen Nacht.
Ihr Blick ruhte unverwandt auf dieser Aussicht, doch ihre langgezogenen, mandelförmigen Augen waren ebenso ausdruckslos wie ihr Gesicht.
»Warum sagst du so was?«, fragte Rhoswen. In der Stimme der jüngeren Vampyrin, die neben dem Sessel kniete, lagen Tränen. Sie hatte den blonden Kopf zu Carling emporgehoben und blickte zu ihr auf wie eine Blume zu einer Mitternachtssonne. »Du bist das wundervollste Geschöpf auf der Welt.«
»Das ist sehr süß von dir.« Carling küsste Rhoswen auf die Stirn, da die andere Frau das zu brauchen schien. Die Distanziertheit in Carlings Blick verringerte sich zwar, verschwand jedoch nicht ganz. »Aber solche Worte beunruhigen mich eher. Wenn du so von jemandem wie mir denkst, solltest du dir ein besseres Urteilsvermögen zulegen.«
Jetzt liefen der Dienerin die Tränen über das perfekte Kamee-Gesicht. Schluchzend schlang Rhoswen die Arme um Carling.
Carlings glatte Augenbrauen hoben sich. »Was ist los?«, fragte sie mit matter Stimme. »Was habe ich gesagt, das dich traurig macht?«
Rhoswen schüttelte den Kopf und umklammerte Carling fester.
Rhoswen gehörte zu den beiden Jüngsten unter Carlings Zöglingen. Abgesehen von einigen außerordentlich talentierten Ausnahmen, denen sie im späten neunzehnten Jahrhundert begegnet war, hatte Carling schon vor langer Zeit aufgehört, Vampyre zu erschaffen. Rhoswen hatte damals zu einer heruntergekommenen Shakespeare-Theatertruppe gehört, mit einer Stimme aus reinem Gold und einem unheilbaren Fall von Lungentuberkulose. Als Carling Rhoswen verwandelt hatte, war sie ein verängstigtes, sterbenskrankes achtzehnjähriges Mädchen gewesen. Deshalb gestand sie ihr größere Freiheiten zu als ihren anderen Dienern, und deshalb ertrug sie auch Rhoswens erdrückende Umarmung, während sie nachdachte.
»Wir haben über alles gesprochen, was vor der Krönung der Dunkle-Fae-Königin passiert ist. Du wolltest unbedingt glauben, ich hätte etwas Gutes getan, als ich Niniane und ihren Geliebten Tiago von ihren Verletzungen geheilt habe. Wenngleich das Ergebnis wohltätig gewesen sein mag, habe ich versucht deutlich zu machen, was für ein egoistisches Wesen ich im Grunde meines Herzens bin.«
»Vor zwei Tagen«, sagte Rhoswen in ihrem Schoß. »Vor zwei Tagen haben wir darüber gesprochen, und dann bist du wieder in diese Trance gefallen.«
»Wirklich?« Carling richtete sich auf, um sich gegen die Nachricht zu wappnen. »Nun, uns war klar, dass sich der Verfall beschleunigt.«
Niemand wusste genau, warum sehr alte Vampyre eine Phase des mentalen Verfalls durchliefen, bevor sie sich vollends im Wahnsinn verloren und schließlich starben. Außerhalb der höchsten Staatskreise der Nachtwesen war über das Phänomen nur wenig bekannt, da Vampyre nur selten ein so hohes Alter erlangten. Sie führten ein Leben voller Gewalt, meist starben sie vorher an anderen Ursachen.
Möglicherweise war es das unaufhaltsame Fortschreiten der Krankheit selbst. Vielleicht, dachte Carling, ist in unserem Ursprung schon der Keim unseres Untergangs enthalten. Die Seelen mit ihrem menschlichen Ursprung waren nicht für das nahezu unsterbliche Leben geschaffen, das der Vampyrismus ihnen ermöglichte.
Rhoswen hob das tränenüberströmte Gesicht. »Aber eine Zeit lang ging es dir besser! In Chicago und später bei der Krönung der Dunklen Fae warst du vollkommen aufmerksam und einsatzfähig. Du warst wirklich anwesend. Wir müssen dir einfach immer wieder neue Anreize schaffen.«
Ein Anflug von Ironie spiegelte sich auf Carlings Miene. Außergewöhnliche Erfahrungen schienen zu helfen, weil die sie für eine gewisse Zeit aufrüttelten und wach hielten. Das Problem war, dass sie nur vorübergehend wirkten. Für jemanden, der Jahrtausende hatte vorüberziehen sehen, wurden selbst außergewöhnliche Erfahrungen mit der Zeit gewöhnlich.
Seufzend gestand sie: »Ich
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