Der Kuss des Greifen (German Edition)
hatte einige Schübe, von denen ich dir nichts gesagt habe.«
Die Trauer, die daraufhin von Rhoswens Miene Besitz ergriff, war definitiv shakespearisch. Als Carling die fanatische Ergebenheit der Frau betrachtete, verstärkte sich der Eindruck der Ironie – sie wusste, dass sie nicht das Geringste getan hatte, um diese Hingabe zu verdienen.
Der Zeitpunkt ihrer Geburt war ungewiss, denn jene Zeit lag so weit zurück, dass die Einzelheiten aus der Geschichte verblasst waren. Man hatte sie entführt und versklavt, beinahe zu Tode gepeitscht und einem alternden Wüstenkönig als Konkubine geschenkt. Damals hatte sie sich geschworen, dass niemals wieder jemand eine Peitsche gegen sie erheben würde. Mit ihren Verführungskünsten hatte sie den König dazu verleitet, sie zur Königin zu machen, und ihr unvorstellbar langes Leben brachte sie damit zu, sich magische Macht anzueignen. Sie lernte alles über Gifte, Kriegsführung und Zauberei, sie lernte zu herrschen und aus tiefstem Herzen nachtragend zu sein. Und dann entdeckte sie den Vampyrismus, den Kuss der Schlange, der sie beinahe unsterblich machte.
Sie hatte mit Dämonen Schach um Menschenleben gespielt, hatte Monarchen beraten und Kriege gegen Monster geführt. Im unaufhaltsamen Lauf der Jahrhunderte hatte sie mehrere Länder mit der standhaften Unbarmherzigkeit ihrer schlanken, eisernen Faust regiert. Sie kannte Zaubersprüche, die so geheim waren, dass das Wissen um ihre Existenz fast gänzlich von dieser Erde verschwunden war, und sie hatte wundersame Dinge gesehen, deren Anblick stolze Männer in die Knie gezwungen hatte. Sie hatte die Dunkelheit besiegt und konnte sich im Licht des Tages bewegen, und sie hatte den Verlust so vieler Personen und Dinge ertragen müssen, immer und immer wieder, bis selbst Trauer sie nicht mehr berühren konnte.
All diese fabelhaften Erfahrungen lösten sich nun nach und nach in den Farben der Nacht auf.
Es gab einfach keine Richtung mehr, in die sie ihr Leben lenken konnte, keinen Berg mehr, den es zu erklimmen galt. Kein Abenteuer war so unwiderstehlich, dass sie alles daransetzen würde, um es bis zum Ende durchzustehen. Nachdem sie so viel investiert und so hart gekämpft hatte, um zu überleben, so lange zu leben und zu herrschen, hatte sie jetzt … das Interesse verloren.
Und hier war nun der letzte aller Schätze. Dieses letzte Juwel lag ganz oben in ihrer Schatulle der Geheimnisse und funkelte in pechschwarzem Licht.
Die angestaute magische Energie, für deren Erwerb sie so hart gearbeitet hatte, pulsierte im Rhythmus des immer schneller fortschreitenden Verfalls ihres Geists. Um sich sah sie einen herrlichen, durchsichtigen Schimmer auflodern. Die Magie hüllte sie in einen Schleier, der glitzerte wie Diamanten.
Sie hatte nicht erwartet, dass ihr Tod so wunderschön sein würde.
Wann es angefangen hatte, wusste sie nicht mehr. In ihrem Geist vermischte sich Vergangenheit und Gegenwart. Die Zeit war ihr ein Rätsel geworden. Vielleicht war es hundert Jahre her, vielleicht erstreckte es sich auch über ihr gesamtes Leben, worin eine gewisse Symmetrie läge. Gerade das, wofür sie so hart gekämpft hatte, wofür sie Blut und Zornestränen vergossen hatte, sollte sie letzten Endes aufzehren.
Ein weiteres Auflodern der magischen Energie kündigte sich an. Sie spürte ihre Unausweichlichkeit wie das bevorstehende Crescendo einer unsterblichen Symphonie. Oder den nächsten vertrauten Takt ihres längst verstummten, beinahe vergessenen Herzschlags. Carlings Blick verlor sich im Ungewissen, während sie sich auf diese atemberaubende Flamme in ihrem Inneren konzentrierte.
Kurz bevor sie wieder ganz davon eingehüllt wurde, fiel ihr etwas Merkwürdiges auf. Im Haus war kein Laut zu vernehmen, keine Bewegung von anderen Vampyren, kein Funken menschlicher Gefühle. Nichts als der stoßweise Atem von Rhoswen, die zu ihren Füßen kniete, und die leisen, zufriedenen Geräusche eines Hundes, der sich hinter dem Ohr kratzte, ehe er sich in seinem Kissen auf dem Boden einen gemütlichen Liegeplatz zurechtwühlte. In ihrem langen Leben war Carling die meiste Zeit von Schakalen umgeben gewesen – begierig darauf, sich von den Resten zu ernähren, die von den Tischen der Mächtigen und Magiebegabten abfielen. Aber irgendwann im Laufe der letzten Woche hatten all ihre Diener und Speichellecker die Flucht ergriffen.
Manche Wesen hatten im Gegensatz zu anderen einen gut entwickelten Selbsterhaltungstrieb.
»Ich würde vorschlagen,
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